Das Bundesamt für Statistik berechnet aufgrund der Sterbezahlen der vergangenen fünf Jahre, wie viele Leute normalerweise in einer Woche sterben. Diese erwarteten Todesfälle vergleichen die Statistiker mit den Todesfällen, die laufend von den Zivilstandsämtern eingehen und hochgerechnet werden. Die Differenz ergibt die Übersterblichkeit, welche jeweils bei Grippe- und Hitzewellen auftaucht.
Die neusten Zahlen zeigen: In den fünf Wochen um den Höhepunkt der Coronakrise von Mitte März bis April sind in der Schweiz 1660 Menschen mehr gestorben als in dieser Zeit üblich. Aber nur 1210 davon tauchen in der Statistik des Bundesamts für Gesundheit mit den Covid-19-Todesfällen auf. Es bleiben also 450 Todesfälle übrig, die mit der offiziellen Statistik nicht erklärt werden können.
Fest steht, dass diese ungeklärten Todesfälle mit der Coronakrise zusammenhängen. Denn die Kurven der Übersterblichkeit und der Coronatoten verlaufen parallel. Zudem ist die Übersterblichkeit in der Genferseeregion, im Tessin und in der Nordwestschweiz am grössten. Es sind die Regionen, die am stärksten infiziert sind.
Hinzu kommt, dass das Notstandregime sinkende Unfallzahlen zur Folge hat. Es sterben weniger Leute im Verkehr oder beim Bergsteigen. Und dennoch liegt die Übersterblichkeit 37 Prozent über den offiziellen Covid-19-Todeszahlen.
Was sind die Gründe für die versteckten Todesfälle? Zwei Erklärungsansätze stehen im Vordergrund.
Die Zahlen des Bundesamts für Gesundheit sind zu tief, weil sie nur jene Todesfälle enthalten, bei denen zuvor ein Labor einen Covid-19-Nachweis erbracht hat. Wer ohne einen Test gemacht zu haben zuhause oder im Altersheim an den Folgen des Virus stirbt, wird nicht erfasst.
Einen anderen Ansatz verfolgt Belgien. Dort fliessen sämtliche Todesfälle in die Coronastatistik ein, bei denen die Verstorbenen Covid-19-Symptome aufwiesen. Dies, auch wenn sie nicht explizit getestet wurden. Die Zählweise hat dazu geführt, dass Belgien die Pro-Kopf-Statistik der Covid-19-Todesfälle weltweit anführt. Das Ziel der Methode sei, grösstmögliche Transparenz zu schaffen, sagt Premierministerin Sophie Wilmes.
Auch andere Länder gehen dazu über, Coronatote abseits der Krankenhäuser in die offizielle Statistik aufzunehmen. Grossbritannien musste diese Woche seine Todeszahl auf einen Schlag um mehr als 4000 nach oben korrigieren.
Das ist der erste Erklärungsansatz. Der zweite betrifft die indirekten Folgen der Pandemie.
Alexandar Tzankov leitet die Histopathologie und Autopsie am Universitätsspital Basel. Er stellt fest, dass neben den Covid-19-Fällen im Unispital seit Ausbruch der Coronakrise etwas weniger Patienten starben als sonst. Über die Gründe könne er nur spekulieren: «Ich vermute, dass einige Leute mit potenziell tödlichen Krankheiten in dieser Zeit den Zentrumsspitälern mit Coronastationen ferngeblieben sind. Vielleicht sind einige zuhause oder in anderen Spitälern gestorben.»
Giovanni Pedrazzini ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie und Chef vom Cardiocentro in Lugano. Er sagt, dass seit dem Ausbruch der Krise halb so viele Patienten oder noch weniger wegen Herzinfarkten hospitalisiert würden. Bei den Schlaganfällen stellen die Neurologen ebenfalls eine Abnahme fest. Auch Pedrazzini betont, derzeit könne er über die Gründe nur spekulieren: «Vor allem ältere Patienten mit einem Herzleiden sind womöglich trotz Vorzeichen aus Angst vor einer Coronaansteckung zuhause geblieben.»
Hans Rickli, Chefarzt der Kardiologie am Kantonsspital St.Gallen, bestätigt die Vermutung: «Wir haben bereits jetzt eine Reihe von Patientinnen und Patienten, welche ihren Herzinfarkt zuhause durchgemacht haben und nun mit Verzögerung mit Herzschwäche ins Spital kommen.» Ein Teufelskreis: Bei Herzinfarkten und Schlaganfällen ist die schnelle Behandlung entscheidend. Umso länger die Patienten warten, desto schlechter ist ihr gesundheitlicher Zustand später.