Schweiz
Coronavirus

Alain Berset erinnert sich an die Coronapandemie

Bundesrat Alain Berset spricht an einer Medienkonferenz zu Covid 19 Massnahmen, am Freitag, 17. Dezember 2021, in Bern. (KEYSTONE/Peter Schneider)
Alain Bersets Name ist für viele untrennbar mit der Coronapandemie verbunden. Bild: keystone

«Mit anderen Informationen hätten wir andere Entscheide getroffen»

Am 16. März 2020 schickte er die Schweiz in den Lockdown. Fünf Jahre später blickt der damalige Bundesrat Alain Berset zurück auf die Pandemie und sagt, welche Parallelen er zu heute sieht.
16.03.2025, 08:2216.03.2025, 08:22
Sermîn Faki / ch media
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Am 16. März 2020 haben Sie den Lockdown verkündet. Ist Ihnen der Tag noch sehr präsent oder erscheint er eher wie ein bizarrer Traum?
Alain Berset: Ich erinnere mich sehr genau, nicht nur an diesen einen Tag, sondern an die fünf Tage zuvor, die zum 16. März führten. Das habe ich noch alles sehr präzise im Kopf. Gleichzeitig ist es weit weg.​

Erinnern Sie sich an die Medienkonferenz? Wie war es, das öffentliche Leben stillzulegen, Geschäfte und Restaurants zu schliessen, Demonstrationen zu verbieten?
Ich schaue eigentlich nie zurück. Woran ich mich aber erinnere: Am 28. Februar haben wir Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen verboten. Das fiel uns unglaublich schwer, es erschien uns als sehr gravierende Einschränkung der persönlichen Freiheit. 16 Tage später hatte sich die Welt noch einmal total verändert. Es ist ein bisschen wie heute, nicht? Nicht inhaltlich, aber in Bezug auf die Geschwindigkeit, mit der alles passiert. Wir wissen jetzt am Abend nie, ob die Weltlage am nächsten Morgen noch die gleiche sein wird.​

Nicht wirklich, nein.
Zu Ihrer Frage: Uns war sehr bewusst, dass unsere Entscheide sofort erhebliche Konsequenzen für jede und jeden haben. Uns war auch klar, dass wir unmöglich all die Konsequenzen – wirtschaftlich, finanziell, gesellschaftlich – bedenken können. Gleichzeitig mussten wir eine gewisse Ordnung aufrechterhalten. Es ging nicht nur darum, Massnahmen zu ergreifen, sondern darum, Chaos zu verhindern, wenn jeder Kanton es auf seine Art gemacht hätte.​

Es war Entscheiden im Blindflug, oder?
Nicht im Blindflug, vielmehr in Ungewissheit. Ohne diese Ungewissheit wäre es keine Krise gewesen! Doch man muss handeln, zu erstarren wäre das Schlimmste. In einer Krise muss man mit der Situation arbeiten, die da ist. In der Schweiz haben wir die Tendenz, alles zu 100 Prozent abzuklären und erst dann zu entscheiden. Das sind Schönwetterprinzipien. In Krisenzeiten geht das nicht. Dann muss man entscheiden – im vollen Bewusstsein, dass man Fehler machen wird, die dann wieder korrigiert werden müssen.​

Gibt es einen Moment in diesem Lockdown, den Sie persönlich nie vergessen werden?
Es gibt viele Momente. Sicher die menschenleere Stadt Bern, die ich auf dem Weg ins Büro und vom Büro aus erlebte. Aber noch einmal, es geht nicht nur um den 16. März. Die ganze Sequenz ist wichtig: Am Freitag, 13. März, entschieden wir, dass sich in Restaurants nur noch eine begrenzte Anzahl Menschen aufhalten dürfen. Ich habe das folgende Wochenende in Bern verbracht und durch die Scheiben der Restaurants gesehen, dass die Regeln zu kompliziert waren. Sie wurden nicht korrekt umgesetzt. Auch das hat zum Entscheid vom 16. März geführt.

Kommen wir noch mal zurück zu den Fehlern. Welchen würden Sie heute nicht mehr machen?
Viele!​

Zum Beispiel?
Immer diese Frage: Welche Fehler haben Sie gemacht? Das ist die falsche Frage! Mit anderen Informationen hätten wir logischerweise andere Entscheide getroffen. Im Moment, in dem man entscheidet, ist es kein Fehler, aber später kann sich herausstellen, dass eine Massnahme falsch war. Das muss man akzeptieren, beweglich bleiben und anpassen. Das haben wir auch gemacht. Eine Null-Fehler-Kultur in einer solchen Situation würde zu Chaos führen.

Auffällig war das Mikromanagement. Dass der Bundesrat jedes Detail geregelt hat.
Sie waren aber für eine gewisse Zeit nötig. Erstens, weil die Betroffenen genau wissen mussten, was gilt oder nicht. Zweitens gaben die Details vielen Menschen Orientierung.​

Nun sind fünf Jahre vergangen. Hat die Pandemie die Welt verändert? Hat sie Sie verändert? Desinfizieren Sie sich noch regelmässig die Hände?
Sie werden lachen: Ja, das tue ich, aber seltener als vorher. Ich habe zum Beispiel fürs Auto Desinfektionsmittel organisiert. Auch anderes ist geblieben. Heute wird öfter zur Maske gegriffen, etwa beim Arztbesuch. Es gibt viele solche kleinen Dinge.​

Und im Grossen?
Ich glaube, es ist schwierig zu isolieren, was auf die Pandemie zurückzuführen ist und was nicht. Seit Jahren geht eine Krise in die andere über. Wir haben – sei es in der Pandemie oder nach dem brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine – grosse Solidaritätsbewegungen gesehen. Auf der anderen Seite haben die Krisen wie ein starker Katalysator für Menschen gewirkt, die sich empören.​

Hat die Pandemie die Staatskritiker hervorgebracht?
Nein, diese Gruppe gab es schon vorher, aber in der Pandemie wurden sie sichtbar – das Coronavirus hat wie der Entwickler im Fotolabor gewirkt: Er macht sichtbar, was schon da ist. Die Pandemie hat ausserdem dazu beigetragen, dass sich Menschen fanden, die so denken, manchmal leider auch durch abstruse Verschwörungstheorien. Bemerkenswert finde ich, wie beständig diese Gruppe ist. Nach der Pandemie haben sie einfach ihr Thema geändert: Statt Corona ist es jetzt die Ukraine oder etwas anderes.​

Wie erklären Sie sich das?
Zuerst einmal: Ich finde es nicht schlecht, wenn die Leute dem Staat kritisch gegenüberstehen. Aber diese Kritik muss auf Fakten beruhen und sie muss konstruktiv sein. Wenn es ein Problem gibt, sollten Kritiker Alternativen vorschlagen.​

Gibt es aus dem Corona-Krisenmanagement etwas, das Ihnen heute hilft?
Ganz generell waren die zwölf Jahre im Bundesrat eine gute Erfahrung, zumal es in den letzten drei, vier Jahren brutalen Druck gab. Da lernt man sich selbst besser kennen. Wenn man ins Ausland schaut, sieht man, dass die Gesundheitsminister und -ministerinnen nicht immer durchgehalten haben. Einige sind gegangen, entweder weil die Arbeitsbelastung zu gross war oder weil sie oder ihre Familie bedroht wurden.​

Warum haben Sie weitergemacht?
Lassen Sie mich erst auf Ihre erste Frage antworten. Wir haben auch jetzt grosse Krisen zu lösen: ein beginnender Handelskrieg, das mögliche Auseinanderfallen des transatlantischen Bündnisses, den Krieg in der Ukraine und in anderen Regionen der Welt. Was ich in der Pandemie gelernt habe: Man kann Krisenmanagement nicht erlernen, auch wenn es Tausende Bücher darüber gibt. Krise kann man nur üben. Wenn man übt und überlebt, hat man etwas gelernt. Die Erfahrung, dass man in Szenarien denken und unter extremer Unsicherheit entscheiden muss, hilft sehr.​

Zurück zur Frage: Warum haben Sie weitergemacht im Bundesrat?
Auch wenn es schwierig war: Es gab immer eine Teamarbeit im Bundesrat. Ich war nie alleine – anders als Gesundheitsminister in anderen Ländern. Und dann, als gewisse Kreise gegen mich vorgegangen sind, nicht nur als Politiker, sondern als Mensch und Familienvater, habe ich mir gesagt: Gebe ich jetzt auf, ist das Signal, dass Drohungen wirken, dass man den Staat so schwächen kann. Das wollte ich nicht zulassen.​

Sie haben die aktuellen Krisen angesprochen. Welche Rolle kommt dem Europarat hier zu, dessen Generalsekretär Sie jetzt sind?
Der Europarat engagiert sich für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Der Schutz dieser Werte hat oberste Priorität. Nun, sie sind unter Druck, überall, auch in Europa. Unsere Aufgabe ist, die Unterstützung für diese Werte zu stärken. Aktuell dreht sich die Diskussion mehr und mehr um demokratische Sicherheit.​

Was heisst «demokratische Sicherheit»?
Es geht darum, dass wir alle in Europa merken, dass wir ein gemeinsames Schicksal haben und dass die Stabilität der demokratischen Strukturen uns sehr wichtig ist. Das bedeutet in keiner Weise, dass wir immer einer Meinung sein müssen. Was die Demokratie betrifft, gibt es grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Genau diese Vielfalt ist eine Bereicherung für Europa. Aber gleichzeitig teilen wir in Bezug auf unsere Grundprinzipien ein kollektives Schicksal. Diesem Schicksal tragen wir hier im Europarat Sorge.​

Ist diese Schicksalsgemeinschaft Europa allen wieder bewusster geworden?
Diesen Eindruck habe ich schon. Europa wird als schwach angesehen, aber das stimmt so nicht. Addiert man unsere Wirtschaftsleistungen, unsere Märkte, unsere Forschung, dann muss man festhalten: Europa ist mit Abstand der mächtigste Raum der Welt. Was uns schwach erscheinen lässt, ist die Zersplitterung.​

Das heisst?
Wir sollten unsere gemeinsamen Institutionen stärken – sei es der Europarat, der die Schweiz mehr als 60 Jahre angehört, sei es die EU, in der die Schweiz ganz bewusst nicht Mitglied ist. Denn was wäre die Alternative?​

Ist die Administration Trump eine Chance für Europa?
In welchem Sinne?​

In dem, dass sich Europa auf seine Stärke besinnt.
Ich glaube, dass die neue US-Administration viele Unsicherheiten und Ungewissheiten sichtbarer gemacht hat. Das kann als Weckruf dienen. Und in der Schweiz geht es uns besser, wenn es unseren Nachbarländern gut geht. Wir sollten also grosses Interesse daran haben, dass es dem Kontinent gut geht.

Angesichts der Krisen: Wie optimistisch oder pessimistisch sind Sie?
Momentan geht vieles in die falsche Richtung. Wir haben vorher über Rechtsstaatlichkeit gesprochen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die russische Invasion in die Ukraine illegal war. Das dürfen wir nicht akzeptieren, denn dann akzeptieren wir, dass Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Dialog nicht mehr oberste Priorität haben. Dann geben Brutalität, pure Machtausübung und Gewalt den Ton an.​

Das passiert doch genau.
Gerade deswegen erstellen wir im Europarat nun ein Schadensregister für den Ukraine-Krieg, um die Verantwortlichen eines Tages zur Rechenschaft zu ziehen. Das Schlimmste wäre, dass sich diese Welt ohne Regeln, die Welt des Stärkeren, durchsetzt. Dass kriegerische Aggressionen zu Erfolg führen, dass die Handelskriege, die bereits angefangen haben, weitergehen, dass die Zersplitterung sich fortsetzt. Und dass wir wegen all dem keine Perspektiven für die Bevölkerungen mehr schaffen können.​

Wie meinen Sie das?
1992 war ich 20 Jahre alt, die Welt stand uns allen offen. Alles schien möglich, die Zukunft war vielversprechend! Für einen heute 20-Jährigen sehen die Perspektiven leider ganz anders aus. Es herrscht Krieg, es gibt grosse wirtschaftliche Unsicherheit. Deshalb beharre ich so auf der Bedeutung der Werte des Europarats. Die Achtung der Menschenrechte, friedliche Beziehungen zwischen den Staaten und Dialog statt Krieg – das würde es erlauben, wieder bessere Perspektiven für die jungen Generationen zu schaffen. (aargauerzeitung.ch)​

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77 Kommentare
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Charlie Brown
16.03.2025 09:12registriert August 2014
Ich ziehe nach wie vor meinen Hut vor BR Berset. Er sagt ganz viel richtiges und wichtiges. Keiner der Polteris hätte die Eier gehabt, die Situation nur annähernd so gut zu meistern.
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Junge mit Früchtekorb
16.03.2025 09:42registriert Oktober 2014
Letzthin habe ich das Buch "Der Berset-Code" vom Psychiater Gregor Hasler gelesen. Berset und Hasler sprechen darin über Resilienz-Startegien in Krisen, sehr empfehlenswert. Ich habe grossen Respekt vor Bersets Leistung in der Pandemie.
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Quaerentius
16.03.2025 09:34registriert Mai 2022
Ich gebe Herrn Berset in Bezug auf das Krisenmanagement vollumfänglich Recht!

Eine falsche Entscheidung ist immer besser als keine Entscheidung!

Kein Entscheidung führt zu Stillstand, man kann keine Entwicklung erkennen. Jede Entscheidung, auch eine falsche, führt zu Bewegung, auf die man, wenn nötig auch korrigierend, Einfluss nehmen kann!
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