In diesen Tagen erlebt man mehrere Déjà-vus: Die Fallzahlen steigen, die Spitäler alarmieren, der Bundesrat trifft sich zur Krisensitzung und die Kantone? Sie schauen zu, handeln widerwillig oder geben die Verantwortung an den Bund ab. Die grosse Ausnahme dieser Regel war und ist der Kanton Graubünden, der immer mehr zum Musterschüler in der Pandemiebekämpfung wird.
Graubünden dachte laut darüber nach, Gross-Events nur für Getestete zu erlauben, als niemand über eine «Zertifikatspflicht» sprach. Der Kanton führte konsequentes Testen in den Schulen ein, experimentierte früh mit Massenspucktests und überraschte vergangene Woche die Politlandschaft mit der Ankündigung, das «Boostern für alle» einführen zu wollen. Er zwang damit die anderen Kantone, in Sachen Auffrischimpung ebenfalls in den nächsten Gang zu schalten.
Wie kam es dazu? Wie schaffte es Graubünden, auch bei der Booster-Impfung durch aktives Vorpreschen dem Bund und anderen Kantone Beine zu machen? Und vor allem: Wie konnte der geografisch anspruchsvolle Kanton praktisch über Wochenende die Auffrischimpfung für alle anbieten?
Ein konkretes Geheimrezept habe sie nicht, sagt die Bündner Kantonsärztin Marina Jamnicki gestern im Churer «Pop-Up Impfzentrum», das extra für die Auffrischimpfung improvisiert in einem ehemaligen Schuhgeschäft aufgebaut wurde. Ihre erste Antwort klingt wie eine einstudierte Floskel: «Wir sind mit der Regierung, dem Krisenstab, dem Gesundheitsamt und der Impflogistik ein eingespieltes Team.» Doch da sind noch weitere Gründe, wie man im Gespräch mit ihr erfährt.
Sie spricht von grundsätzlichen Geboten, die in Krisen wie der Pandemie notwendig seien: «Wir reden miteinander darüber, was der Staat tun kann und muss. Und wir tun das offen, frei von Tabus, zum Teil intensiv, aber stets sachlich. Vor allem tun wir das mit allen, die von der Pandemie betroffen sind und zu ihrer Bekämpfung etwas beitragen können.» So habe es der «Verbund», wie Jamnicki sagt, hingekriegt, nicht nur für die nächsten Problemfelder einen Plan zu entwickeln, sondern auch für die übernächste Entwicklung.
Diese Arbeitsweise sorgte etwa dafür, dass Graubünden quasi ein Versuchskanton für die Massenspucktests (in der Fachsprache: gepoolte speichelbasierte PCR-Tests) wurde. «Wir haben dazu mit dem Nachbar Südtirol und Unternehmen wie beispielsweise die Weisse Arena sowie Partnern der Wissenschaft – etwa der Empa, aber auch mit der Arbeitsgruppe des BAG – zusammengearbeitet», erinnert sich Jamnicki.
Das sei nun auch mit der Booster-Impfung so gewesen. Es sei allen in der Schweiz klar gewesen, dass diese irgendwann kommen würde. Als dann die eidgenössische Impfkommission vergangene Woche die Auffrischimpfung für alle ab 16 Jahren empfahl, habe sie den «Plan» dazu aus der Schublade holen können. «Wir haben uns lange davor überlegt, was die Ausweitung der Auffrischimpfung für die breite Bevölkerung bedeuten könnte und dachten den ganzen Prozess durch.» So habe man am vergangenen Donnerstag die «Breaking News» verkünden können, dass es den Booster nach dem Wochenende für alle gibt.
Dasselbe tat das Team um sie herum auch beispielsweise bei der Frage, wie man im ganzen Kanton die Impfung für Kinder anbieten könnte, sobald die Zulassung durch Swissmedic kommt. «Es ist nicht die Frage, ob diese kommt, sondern wann. Deshalb haben wir uns früh genug Gedanken dazu gemacht.»
Dieses proaktive Handeln sorgte dafür, dass der Kanton Graubünden auch von anderen Medien wegen der «innovativsten Schweizer Corona-Politik» porträtiert wurde. In einem Bericht von «CH Media» wurde Martin Bühler, der Bündner Krisenstabschef, als «Kopf» bezeichnet.
Gegenüber watson bestätigt er die Sicht seiner Kollegin Jamnicki, die er im Gespräch mit dem Vornamen Marina anspricht. «Miteinander reden ist enorm wichtig in einer Krise, sei es eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe», stellt Bühler fest. Über die Zusammenarbeit mit der Kantonsärztin und dem zuständigen Regierungsrat Peter Peyer sagt er: «Wir sind auch mal nicht einer Meinung, aber dann diskutieren wir sachlich. Das haben wir zu Beginn der aktuellen Krise so abgemacht und sind bisher gut damit gefahren.»
Diese enge Zusammenarbeit, sei es zwischen Bühlers Amt für Militär und Zivilschutz und Jamnickis Gesundheitsamt oder mit den Gemeinden und Regionen sowie Wirtschaftsverbänden, sei für ihn kein Selbstzweck. «In einer Krise haben alle ihre Verantwortung zu tragen. Bei der Impfung sind es die Gemeinden, bei Schutzmassnahmen ist es der Kanton, und man hilft sich gegenseitig, wenn irgendwer mal ans Limit kommt», sagt Bühler und zieht den Gedanken weiter im Zusammenhang mit dem viel kritisierten zögernden Bundesrat: «Epidemienbekämpfung liegt auch in der Verantwortung der Kantone. Wir nehmen diese wahr, soweit es möglich ist.»
Das Vorpreschen in Graubünden erklärt er mit den bevorstehenden Monaten: «Der Wintertourismus ist wichtig für die Bündner Wirtschaft. Gleichzeitig wissen wir, dass der Schneesport die Spitäler auslastet. Uns erschien es deshalb jetzt das Vernünftigste, die Pandemie in den Griff zu bekommen, bevor der Tourismus und die Spitäler beide leiden.»
So hielt Graubünden an den repetitiven Tests in Schulen und Betrieben fest – was aber jüngst die Labors ans Limit brachte. Besserung der Situation erhofft sich der Kanton deshalb nun mit einem eigenen «Schutzkonzept Winter», das ein Bündel an Massnahmen vorsieht: So bleiben Covid-Tests in Betrieben weiterhin gratis (Arbeitnehmende kriegen sogar ein Test-Zertifikat), das Personal auf den Intensivstationen wird aufgestockt und in Schulen werden CO2-Messungen vorgenommen. Dafür greift der Kanton tief in die Tasche: 10 bis 35 Millionen Franken sind vorgesehen, abhängig oder eben unabhängig davon, wie viel der Bund davon trägt und was er beschliesst.