Die Nase läuft, die Maske hängt am Kinn des jungen Mannes, der am Samstagabend in der S-Bahn von Thalwil nach Zürich böse Blicke auf sich zieht. Von den genervten Mitreisenden sagt aber niemand etwas, bis der maskenlose Mittzwanziger aussteigt. Es ist ein mittlerweile übliches Bild im öffentlichen Verkehr in der Schweiz. Passagiere ohne Mund-Nasen-Schutz, der seit Sommer 2020 obligatorisch ist, fahren täglich mit Bus, Bahn und Tram durchs Land.
Pendlerinnen und Pendler lassen auf Kanälen wie Twitter ihrem Ärger freien Lauf. «Ich bin täglich im ÖV und beobachte, dass die offen zur Schau gestellte Maskenverweigerung sich in letzter Zeit verstärkt. Spricht man die Leute darauf an, wird man beschimpft», schreibt etwa eine Pendlerin.
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«Ich bin immunsupprimiert und fühle mich nicht sicher», heisst es in einem anderen Tweet, oder an die Adresse der SBB: «Im Zug von Winterthur nach Rafz sind rund 60 Prozent ohne Maske. Und sie sprechen von Eigenverantwortung? Wie kann ich mich schützen?»
Viele ÖV-Betriebe streiten zwar eine Häufung ab, können aber auf Nachfrage keine Zahlen liefern. Die drei grössten ÖV-Unternehmen, die SBB, Postauto und die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ), führen keine Statistiken. Ihre Beobachtungen lassen aber aufhorchen.
Die VBZ berichten, tagsüber sei die Einhaltung der Maskenpflicht «sehr hoch» und abends «hoch». In der Nacht hingegen mögen die VBZ nur noch von einer «deutlichen Mehrheit» sprechen, die Maske trägt. Bei Postauto wiederum heisst es, «die allermeisten» würden eine Maske tragen. Ganz überzeugt davon ist das Busunternehmen aber offensichtlich nicht. Denn die Post-Tochter will eine neue Kampagne zum Maskentragen starten. Sie sei «in unmittelbarer Planung», sagt Sprecherin Katharina Merkle.
Die SBB wiederum beobachten im Fernverkehr eine «hohe Disziplin» beim Maskentragen. In den unbegleiteten Regionalzügen sei die Disziplin «grundsätzlich ebenfalls hoch» – aber eben nur, soweit das Personal dies bei Stichproben feststellen könne, sagt Sprecher Martin Meier.
Wer sich in der Branche umhört, stellt einen wachsenden Frust fest. Einerseits trägt eine grosse Mehrheit der Kundschaft weiterhin eine Maske, ohne zu murren. Andererseits ist das Personal täglich mit Kunden konfrontiert, welche die Maske bewusst verweigern und die Konfrontation nicht scheuen. Die VBZ teilen mit, hin und wieder komme es zu unfreundlichen Kommentaren gegenüber dem Personal, «seltener zu Beleidigungen und in Einzelfällen zu Bedrohungen oder Übergriffen». Der wirksamste Schutz dagegen liege in einem Kommunikationsverhalten, das «konfliktvermeidend und deeskalierend» wirke. Die VBZ führten mit dem Personal deshalb regelmässig Deeskalationsschulungen durch.
Die Mitarbeitenden dürfen aber keine Bussen ausstellen, sondern müssten die Polizei rufen. Ob diese rechtzeitig am nächsten Bahnhof oder an der nächsten Haltestelle eintreffen würde, ist längst nicht immer klar.
Dass Kundenbegleiterinnen, Busfahrerinnen und Busfahrer oder Trampiloten die Maskenpflicht kontrollieren müssen und sich damit Aggressionen aussetzen, will die Branche zu Recht verhindern. Sie muss sich aber die Frage stellen lassen, warum sich ihr Sicherheitspersonal nicht häufiger mit der Kontrolle befasst – oder konsequent die Polizei aufgeboten wird. Alleine für die SBB sind Hunderte von Sicherheitsmitarbeitenden und Transportpolizisten im Einsatz. Doch grossflächige Maskenkontrollen gab es keine – oder zumindest ist davon nichts bekannt.
Dass das Personal die Polizei oder die eigenen Sicherheitsleute hinzuzieht, kam bei den SBB seit Einführung der Maskentragpflicht «wiederholt vor, aber insgesamt selten», sagt Sprecher Martin Meier. Postauto-Sprecherin Merkle ist kein Fall bekannt, in dem das Personal die Polizei «ausschliesslich wegen fehlender Maske» gerufen hätte. Wenn das geschehe, handle es sich meist um «kombinierte Fälle»: etwa «ein Fahrgast, der betrunken ist und pöbelt und zudem keine Maske trägt».
VBZ-Sprecherin Daniela Tobler wiederum sagt: «Kontrollen nur mit Fokus auf die Maskenpflicht führen wir nicht durch». Das Kontroll- und Sicherheitspersonal mache Fahrgäste, die keine Maske tragen, auf die geltende Pflicht aufmerksam. «Wer sich weigert, kann aufgefordert werden, das Verkehrsmittel bei der nächsten Haltestelle zu verlassen. Falls es die Situation erfordert, wird die Polizei hinzugezogen.» Wie häufig das geschieht, erheben die VBZ nicht.
Die Ratschläge, welche die ÖV-Betriebe an verärgerte Mitpendlerinnen und Mitpendler geben, die sich über maskenlose Reisende ärgern, helfen auch nicht wirklich weiter. «Sie können sich mit Fragen aller Art an die Kundenbegleiterinnen und Kundenbegleiter wenden», sagt etwa Martin Meier von den SBB – in S-Bahnen oder Regionalzügen keine effektive Option.
Postauto-Sprecherin Merkle sagt, wer sich als Passagier über maskenlose Mitreisende ärgere, könne diese «freundlich darauf hinweisen» oder sich an den Fahrer wenden, der die Durchsage schalten oder den Gast selbst darauf hinweisen könne, wenn er denn gerade nicht fahre.
Eigentlich wäre es der Job des Bundesamts für Gesundheit (BAG), dafür zu sorgen, dass die vom Bundesrat erlassene Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr auch eingehalten wird. Aber es tut nicht viel dafür. «Der Bundesrat hält an der Maskenpflicht im ÖV fest», sagt Sprecher Daniel Dauwalder nur. Die Zuständigkeit zur Durchsetzung liege aber bei den ÖV-Betrieben.
Das BAG stehe im Austausch mit den sogenannten Systemführern im öffentlichen Verkehr, «insbesondere mit den SBB». Das Amt «wird bei Bedarf erneut auf die SBB zugehen, um sich darüber auszutauschen, mit welchen Mitteln und Strategien die Einhaltung der Maskenpflicht verbessert werden kann».
Bis es so weit ist, haben die ÖV-Pendlerinnen und -Pendler eigentlich nur eine Möglichkeit, um auch im ÖV einigermassen gut geschützt zu sein: Sie können von Hygienemasken auf FFP2-Masken wechseln. Die weitverbreiteten Hygienemasken schützen vor allem die anderen, nicht einen selbst – und das scheint bei Maskenverweigerern keine Priorität zu geniessen.