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Braucht es die CVP überhaupt noch? Gerhard Pfister ist eigentlich der falsche Adressat für diese Frage. Der Zuger Nationalrat muss sie mit Ja beantworten, er wird am Samstag das Präsidium der Christlichdemokratischen Volkspartei übernehmen. Die Wahl an der Delegiertenversammlung in Winterthur ist Formsache, niemand will gegen Pfister antreten. Illusionen aber macht er sich nicht: «Ich werde sicher nicht einstimmig gewählt wie Petra Gössi bei der FDP.»
Gerhard Pfister politisiert in der Bundeshausfraktion am rechten Rand. Das bereitet manchen Bauchweh, denn das ideologische Spektrum der CVP ist breiter als jenes der anderen Parteien. Das eine oder andere Protest-Nein ist programmiert. Letztlich aber haben sich selbst die Vertreter des christlichsozialen Flügels mit dem so scharfsinnigen wie streitbaren Konservativen abgefunden. Man ist froh, dass überhaupt jemand den stressigen Job auf sich nimmt.
Die CVP ist ein politisches Paradox. Keine Bundesratspartei ist bei Volksabstimmungen häufiger auf der Siegerseite. Man vertraut ihren Kandidaten bei Majorzwahlen, dies belegt ihre starke Vertretung im Ständerat sowie in den Exekutiven von Kantonen und Gemeinden. Ihr Wähleranteil auf nationaler Ebene und vor allem in den «Stammlanden» aber ist bedenklich geschrumpft, von mehr als 23 Prozent in den 1960er Jahren auf 11,6 Prozent bei den Wahlen 2015.
Seit Jahren versucht die Partei vergeblich, den Wählerschwund zu stoppen. Ihrem alten «Erzfeind», der FDP, ist dies zuletzt gelungen, unter anderem dank einer klaren ideologischen Positionierung rechts der Mitte. Auch die anderen Parteien haben sich in der Politlandschaft eindeutig verortet. Das Profil der CVP hingegen bleibt diffus. Man kann es auch positiver formulieren: Mit ihrer breiten Abstützung ist sie die letzte echte Volkspartei.
«Das ist so», meint Gerhard Pfister. Er dankt dem Journalisten, ganz gewiefter Kommunikator, sogar für diese Einschätzung. «Ich sehe das so», meint auch Barbara Schmid-Federer. Die Zürcher Nationalrätin ist als Vertreterin des «linken» Flügels – was sie nicht gerne hört – eine Antipodin von Gerhard Pfister in der Fraktion. Sie betont den «liberal-sozialen» Charakter der CVP, der sich in der Verteidigung der Sozialpartnerschaft äussere. Gleichzeitig sei die Partei auch wertkonservativ.
Die CVP vereinigt Unternehmer und Arbeiter, Bauern und Banker, Patriarchen und Feministinnen. Sie ist in allen Sprachregionen – inklusive rätoromanische Schweiz – verwurzelt. Das schöne Image von der Volkspartei hat jedoch einen zweifachen Haken. Es erschwert die Profilierung, ein Nachteil in einer Zeit, in der klare ideologische Positionen bevorzugt werden, nicht zuletzt von den Medien. Und es trügt insofern, als es auf die katholische Bevölkerung beschränkt bleibt.
Obwohl sich die CVP von der Kirche gelöst und wiederholt eine Öffnung angestrebt hat, blieb sie im katholischen «Ghetto» stecken. So formulierte es der Historiker Urs Altermatt in einem Buch, das er zum 100-Jahr-Jubiläum der nationalen Partei 2012 verfasst hat. Gerhard Pfister benutzt deshalb auch den Begriff «Milieupartei». Die CVP habe 90 Prozent katholische Wähler. Für die misslungene Erschliessung anderer Schichten hat er eine Erklärung: Im Alltag seien die einstigen Gegensätze kein Problem mehr, «aber in den Hinterköpfen sind sie immer noch präsent».
Um das zu verstehen, muss man die Geschichte der Partei eintauchen. Im 19. Jahrhundert waren die Katholisch-Konservativen eine zweifache Verliererpartei. Sie unterlagen den Freisinnigen im Sonderbundskrieg 1847 und im Kulturkampf, so bei der Abstimmung über die erste Totalrevision der Bundesverfassung 1874. Mit der Zeit konnten sie die Sonderbundskantone – die Innerschweiz, Freiburg und das Wallis – «zurückerobern», auf nationaler Ebene aber blieben sie von der Macht ausgeschlossen. Dies förderte eine Tendenz zur Abschottung.
Wer muslimische Parallelgesellschaften heraufbeschwört, kennt die katholische-konservative Schweiz des 19. Jahrhunderts nicht. Sie war eine echte Parallelwelt mit eigenen Strukturen und Institutionen: Vereine aller Art, Schulen, Zeitungen, Krankenkassen, sogar Spitäler. Bestimmt wurde sie durch ein konservatives, antimodernistisches Gedankengut, das vom Vatikan diktiert wurde. Es äusserte sich unter anderem darin, dass die meisten katholischen Kantone die Industrialisierung «verschliefen» und bis weit ins 20. Jahrhundert wirtschaftlich hinterherhinkten.
Und es führte zu einem für die CVP dunklen Kapitel, dem katholischen Antisemitismus. Er war ein giftiges Gemisch aus dem alten christlichen Antijudaismus, der die Juden als «Christusmörder» verunglimpfte, und dem völkischen Antisemitismus. Die Katholisch-Konservativen bekämpften die vor genau 150 Jahren beschlossene Gleichberechtigung der Juden auch dann noch vehement, als die Schweiz in dieser Frage vom Ausland – namentlich Frankreich – unter Druck gesetzt wurde.
Der katholische Antisemitismus bildete auch den Nährboden für das vom Volk 1893 angenommene Schächtverbot. Zu jenem Zeitpunkt hatte die Versöhnung mit dem Bundesstaat bereits begonnen. Eine wichtige Rolle spielte dabei ausgerechnet die einst bekämpfte Verfassungsrevision von 1874. Mit ihr wurde das Referendum eingeführt, das von den Katholisch-Konservativen erfolgreich benutzt wurde, um dem rein freisinnigen Bundesrat Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Als das Stimmvolk 1891 die (Rück-)Verstaatlichung der Centralbahn ablehnte, erkannten die Freisinnigen, dass ihre mehr als 40-jährige Alleinherrschaft nicht mehr zu rechtfertigen war. Sie boten den Katholisch-Konservativen einen Sitz im Bundesrat an. Im internen Streit zwischen Hardlinern und Pragmatikern setzten sich die Verfechter der Regierungsbeteiligung durch, der Entlebucher Josef Zemp wurde zum ersten Bundesrat der heutigen CVP gewählt. Als Vorsteher des Post- und Eisenbahndepartements wurde der einstige Gegner der Bahnverstaatlichung zum «Vater» der SBB.
Zemp hatte 15 Kinder. Zu seinen zahlreichen Nachkommen gehört Barbara Schmid-Federer, sie ist auf der mütterlichen Seite eine Urenkelin des Luzerners. Ihr Bruder Urban Federer ist Abt des Klosters Einsiedeln. Trotzdem ist sie keine in die Wolle gefärbte CVPlerin. «Bis zum Jahr 2000 war ich weitgehend apolitisch. Ich wurde damals angesprochen, ob ich mich nicht in der Partei engagieren wolle.» Sieben Jahre später wurde sie als Quereinsteigerin in den Nationalrat gewählt.
Schmid-Federer vertritt den christlichsozialen Flügel, der ebenfalls im 19. Jahrhundert in den reformierten Diaspora-Kantonen entstand. Viele Katholiken waren auf der Suche nach Arbeit dorthin ausgewandert und wurden mit den sozialen Folgen der Industrialisierung konfrontiert. Zu den Konservativen in den «Stammlanden» entwickelte sich eine Rivalität, die erst 1912 mit der Gründung der Landespartei überwunden wurde, wenn auch nur halbwegs. Der damalige Name Konservative Volkspartei (KVP) zeigt, wer den Ton angab.
Politisch ging es weiter bergauf. Als die FDP mit der Einführung der Proporzwahl 1919 ihre absolute Mehrheit im Nationalrat verlor, erhielt die KVP einen zweiten Bundesratssitz. Von 1954 bis 1959 waren es sogar drei Sitze, doch das war in erster Linie taktisch bedingt. Hinter den Kulissen arbeitete der damalige Generalsekretär Martin Rosenberg längst an einer Neuordnung des Bundesrats. Ein Jahr zuvor hatte sich die SP nach zehn Jahren unter Getöse aus der Regierung zurückgezogen. Sie wollte erst zurückkehren, wenn ihr zwei Sitze garantiert wurden.
1959 war es soweit. Als vier Bundesräte gleichzeitig zurücktraten, entstand die «Zauberformel» aus je zwei Sitzen für FDP, CVP und SP und einem für die SVP. Während mehr als 40 Jahren sorgte sie für bemerkenswert stabile Verhältnisse. Die Katholisch-Konservativen wiederum öffneten sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur Mitte und tauften sich 1957 um in Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei (KCVP).
Der neue Kurs bescherte der Partei Erfolge, in den 1960er Jahren erzielte sie ihre besten Wahlergebnisse. Im Zuge der gesellschaftlichen Öffnung lockerten sich die Bande zum Katholizismus. 1970 erhielt die CVP ihren heutigen Namen, ausserdem erklärte sie sich ausdrücklich offen für Menschen anderer Konfession und Wertvorstellungen. Dennoch begann ein schleichender Niedergang, der sich in den 1990er Jahren beschleunigte.
Knackpunkt war die Abstimmung über den EWR-Beitritt 1992. Urs Altermatt bezeichnet sie in seinem Buch als politisches «Marignano» der CVP, «die in der Europafrage zwischen Progressiven und Konservativen tief gespalten war». Mit verheerenden Folgen. Zahlreiche konservative Katholiken «desertierten» zu einem reformierten Pfarrerssohn aus Zürich. Christoph Blochers nationalkonservative Schweiz wurde für sie zu einer Art «Ersatzheimat».
Der Aderlass war in den Stammlanden massiv. «Alles in allem büssten die Christlichdemokratischen seit 1963 fast 50 Prozent ihrer Nationalratsmandate in den alten Kulturkampfkantonen der Schweiz ein», schreibt Altermatt. Auch in anderen Kantonen musste sie bluten. Im konfessionell gemischten Aargau belegte die CVP in den 1980er Jahren vier Sitze im Nationalrat und einen im Ständerat. Seither erhielt der Kanton aufgrund der Demographie zwei zusätzliche Sitze im Nationalrat, die CVP aber wurde fast ausradiert. Heutiger Besitzstand: Nationalrat 1, Ständerat 0.
Den absoluten Tiefpunkt dieser Entwicklung erlebte die Partei 2003, als Bundesrätin Ruth Metzler abgewählt und ausgerechnet von jenem Christoph Blocher verdrängt wurde, der so erfolgreich im Revier der CVP «gewildert» hatte. Damit war die Partei wieder auf dem Stand von 1891, und es bestehen kaum realistische Aussichten, dass sie in absehbarer Zeit einen zweiten Sitz im Bundesrat erobern kann. Heute lebt sie primär von ihrer Stärke im Ständerat, die im Vergleich mit der Blütezeit ebenfalls abgenommen hat, und ihrer Rolle als Mehrheitsbeschafferin.
Was wäre zu tun? Die CVP muss ihr Profil schärfen und ihre Wählerbasis verbreitern. Das aber ist leichter gesagt als getan. Nach wie vor wird sie überwiegend von Katholiken gewählt, aber immer weniger Katholiken wählen die CVP. Eine Annäherung an die BDP, die in mehrfacher Hinsicht Sinn machen würde, scheiterte am Widerstand des kleineren Partners. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Auch Urs Altermatt hält eine Fusion mit der BDP für prüfenswert.
Aus eigener Kraft ist es der CVP nur ansatzweise gelungen, aus dem katholischen Milieu auszubrechen. Gerhard Pfister räumt Versäumnisse ein: «Wir haben zu lange davon gelebt, dass die Leute selbstverständlich CVP gewählt haben. Heute gibt es dieses Gewohnheitsrecht nicht mehr.» Die deutsche CDU hat vorgemacht, wie es ginge. Sie hat ihre Wurzeln in der einstigen katholischen Zentrumspartei und bemühte sich nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv um evangelische Wähler. Sie erreichte damit Wahlergebnisse, von denen die CVP stets nur träumen konnte.
Bei den Reformierten dürfte für die CVP in der heutigen säkularen Welt wenig zu holen sein. Barbara Schmid-Federer ortet eine «Marktlücke» im liberal-sozialen Spektrum, also bei jenen Linksliberalen, die sich politisch oft heimatlos fühlen. Um diese buhlte die CVP jedoch bereits unter der damaligen Präsidentin und heutigen Bundesrätin Doris Leuthard, mit überschaubarem Erfolg.
Gerhard Pfister hingegen beschwört gerne das Bild von «Laptop und Lederhose», mit dem der frühere deutsche Bundespräsident Roman Herzog die bayerische CSU beschrieben hat. In seinem Heimatkanton Zug politisiert die CVP mit Erfolg auf dieser Linie. Auf nationaler Ebene wird der Mix aus wertkonservativ und wirtschaftsfreundlich jedoch bereits von der SVP bewirtschaftet.
Als Hindernis für eine Öffnung wird oft das leidige C im Namen angeführt. Die Diskussion darüber ist alt. Bei der letzten Umbenennung 1970 stand der Name «Schweizerische Volkspartei» im Raum, doch er wurde nicht ernsthaft erwogen. Ein Jahr später übernahm ihn die heutige SVP.
Soll die CVP also das Label «christlich» über Bord werfen? Weder für Schmid-Federer noch für Pfister ist dies ein Thema: «Ich habe mit dem Wort ‹christlich› keine Mühe, im Gegenteil, ich spreche den Horizont erweiternd von ‹interreligiös›. In Zürich haben wir nebst katholischen und reformierten auch muslimische Mitglieder. Auch Konfessionslose fühlen sich in unserer Partei mit der christlichen Kultur verbunden», sagt die Nationalrätin. Und für Pfister wäre es ein grosser Fehler, den etablierten «Brand» CVP einfach aufzugeben.
Wichtiger ist für beide Exponenten, dass die CVP sich besser positioniert. Der scheidende Präsident Christophe Darbellay hinterlässt in dieser Hinsicht eine Baustelle. Der joviale Walliser verlor sich sachpolitisch im Ungefähren und kompensierte dies durch populistische Sprüche, die das eine oder andere Mal ins Auge gingen. Einfach ist die Aufgabe nicht, denn ein Markenzeichen der CVP ist ihre Rolle als ausgleichende Kraft zwischen Links und Rechts.
Es ist die Quadratur des CVP-Kreises: Wie kann die Partei Profil gewinnen, ohne ihre «Kompromisskompetenz» (Urs Altermatt) zu gefährden? Gerhard Pfister sieht zwei Möglichkeiten: «Verengen oder aus der Vielfalt das Beste machen.» Er plädiert klar für den zweiten Weg. Die CVP müsse sich auf Kernthemen fokussieren, mit grösstmöglicher Geschlossenheit, aber ohne diese zu erzwingen. «Das benötigt mehr Energie als in anderen Parteien, die unternehmerischer organisiert sind oder ein ideologisch engeres Spektrum haben.»
Die neuen Fraktionsrichtlinien, die bei «Kerngeschäften» Geschlossenheit fordern, sind ein Schritt in diese Richtung. Die CVP müsse vermehrt eigene Themen lancieren und auch einmal verlieren, dafür aber die eine oder andere Wahl gewinnen, meint Pfister. Der neue Präsident ortet auch ein Kommunikationsproblem: «Die CVP definiert zu wenig proaktiv ihre eigenen Positionen. Sie ist häufig zu reaktiv und vorschnell auf Lösungen fixiert.»
Seine «Antipodin» Barbara Schmid-Federer sieht es ähnlich, auch für sie ist eine grössere Geschlossenheit der Schlüssel für künftige Erfolge: «Früher hat man in der Fraktion gestritten, trat am Schluss aber bei wichtigen Themen geeint auf. Wir müssen das wieder vermehrt machen.» Wie Pfister hofft sie darauf, dass das Stimmvolk langsam genug von der ewigen Polarisierung haben könnte. Bei Wahlen schlägt sich dies bislang aber nur bedingt nieder.
Die CVP befindet sich im «historischen Dilemma» zwischen katholischem Milieu und bürgerlicher Mittepartei. So lautet der Titel von Urs Altermatts Buch. Bislang hat sie es nicht geschafft, eine überzeugende Antwort zu finden. Dabei empfindet man Sympathie für diese Partei, sie verkörpert so etwas wie die gut schweizerische Kompromisskultur, die man umso stärker zu vermissen begann, je unversöhnlicher und polarisierter der politische Diskurs wurde.
Braucht es die CVP überhaupt noch? Die Partei und ihre Exponenten beantworten diese Frage mit einem überzeugten Ja. Den Nachweis ihrer Unentbehrlichkeit aber muss sie in den nächsten Jahren erst noch erbringen. Die Aufgabe ist schwierig, aber nicht aussichtslos.
Ich wünschte, die Partei würde wieder mehr Wähler finden.