Wie das Portal Travelnews vergangene Woche berichtete, prüfen die SBB als Fernziel die Einführung eines Direktzugs aus der Schweiz nach London. «Basel–London in rund fünf Stunden, das ist möglich», sagte Philipp Mäder, der Leiter Internationaler Personenverkehr der SBB.
Momentan dauert die Reise von Basel aus noch knapp 7, von Zürich aus knapp 8 Stunden.
Wie ist das, mit dem Zug nach London zu reisen? Ich erkläre es dir anhand eines detaillierten, fiktiven Szenarios, inspiriert von meinen eigenen Reisen, damit du im Ernstfall bestimmt alle erwähnten Fettnäpfchen vermeiden kannst.
Legen wir los!
Deine Reise beginnt bereits nächste Woche. Da du nicht mehr viele Ferientage übrig hast, muss ein verlängertes Wochenende reichen. Du kaufst dir Tickets für Mittwoch (6. Dezember) bis Sonntag (10. Dezember). Weil du noch etwas vom Tag haben willst, nimmst du die früheste, schnellste Verbindung: Abfahrt um 09.34 Uhr. Mit 7h 56 min Reisezeit erreichst du den Bahnhof St. Pancras Eurostar in London um 16.30 Uhr.
Und ja: So früh ist 09.34 Uhr gar nicht. Es gibt zwar frühere Verbindungen, mit diesen triffst du aber auch nicht vor 16.30 Uhr ein. Erst ab Weihnachten gibt es eine 8-stündige Verbindung um 07.34 Uhr. Wenn du dich früher aus dem Bett quälst früher aufstehst, kannst du dann bereits um 14.30 Uhr in London sein.
Aber du willst ja schon am kommenden Mittwoch los. Also: Abfahrt 09.34 Uhr. Weil du es am Vorabend verchillt hast, Reiseproviant einzukaufen, willst du 30 Minuten früher am HB in Zürich eintreffen, um noch ohne Stress im Coop einkaufen gehen zu können.
Wie du aber so bist, dachtest du am Vorabend, du könnest ja am Morgen auch noch fertig packen. Das hat dann aber länger gedauert als geplant. Denn irgendwo hattest du doch noch Euro-Nötli rumliegen, die du endlich brauchen könntest, zudem hat dir dein verantwortungsbewusster Kollege noch per WhatsApp geschrieben, dass denn die ID zum Einreisen nach England nicht mehr reiche, weshalb du noch panisch nach deinem Reisepass suchen musst.
Du triffst also lediglich 7 Minuten vor Abfahrt in der Bahnhofshalle ein und musst dich mit einem überteuerten Sandwich vom Kiosk begnügen, bevor du in letzter Minute zu Gleis 16 sprintest.
Wie ein Ross schnaufend und schwitzend, erreichst du den Zug, steigst vorne ein und musst dich mit deinem Gepäck noch gefühlt 7 Kilometer durch die Gänge drücken, weil sich dein reservierter Sitzplatz im zweitletzten Waggon befindet.
Endlich am ersten Etappenziel angekommen, siehst du, dass dein reservierter Sitzplatz bereits von einer Seniorin belegt ist, die mit einem Ü70-Grüppchen unterwegs ist. Du willst einfach nur noch sitzen, daher machst du dich im angrenzenden Abteil breit und schälst dich erleichtert aus deiner Winterjacke.
Jetzt kannst du dich erst mal vier Stunden von diesen Strapazen erholen. Etwas traurig knabberst du am lampigen Kiosk-Sandwich, bis sich deine Stimmung aufhellt. Du hast ja jetzt endlich Zeit, um ...
Die Zeit vergeht wie im Flug im Nu und um 13.38 Uhr trudelt der TGV im Gare de Lyon in Paris ein. Hier werden deine Nerven wieder gefordert: Du musst umsteigen.
Umsteigen? «Mega schlimm wäg eimal», denkst du jetzt. Ja, es ist schlimm. Du bist jetzt nämlich am Paris Gare de Lyon, musst aber zum Bahnhof Paris-Nord Eurostar, auch bekannt als Gare du Nord. Und der liegt nicht etwa um die Ecke. Die SBB haben das ganze Umsteigeprozedere bereits berechnet:
Die 40 Minuten beziehen sich da auf die Zeit, die du laut SBB effektiv von Bahnhof zu Bahnhof benötigst. Sobald du da bist, kommen mit Pass- und Gepäckkontrolle nochmals 45 Minuten obendrauf, bis du endlich im Zug hockst.
Okay, aber wie kommst du jetzt vom einen zum anderen Bahnhof?
Schlau, wie du bist, schaust du gleich mal in der SBB-App nach. Mit folgendem Resultat:
Boah, beim Umsteigen NOCHMALS umsteigen?
Du schaust sicherheitshalber noch bei Google Maps nach und realisierst in einem kurzen Anflug von Beschämung, dass die SBB nur Züge anzeigt. Die Pariser Metropole bietet aber weit mehr als bloss das Zug-Netz.
Zum Beispiel Gehwege. Du könntest die Strecke zu Fuss in 66 Minuten zurücklegen.
Aber so blöd bist du nicht. Da müsstest du ja rennen.
Google Maps zeigt dir Verbindungen mit der Metro, mit dem Zug, mit dem Bus und mit einer Kombination von allem an – es ist ziemlich unübersichtlich. Ein Blick auf die offizielle Mobilitätsseite von Frankreich offenbart dir die simpelste Lösung: Eine direkte, knackige, 8-minütige RER-Verbindung zwischen den zwei Bahnhöfen.
Moment. RER. Das regionale Express-Bahnnetz. Also doch eine Zug-Verbindung? Du schaust dir nochmals die von der SBB ausgespuckte Verbindung an. Zur selben Zeit, in dieselbe Richtung, aber mit Umsteigen, 34 Minuten insgesamt. Hä? Du schaust genauer hin:
Mit der von der SBB angezeigten Verbindung fährst du haarscharf am Gare du Nord vorbei nach Saint-Denis, wo du aussteigst, den nächsten Zug nimmst und an den Gare du Nord zurückfährst. Ankunft: 14.24.
Du bist höchstgradig verwirrt, hast aber mehr Vertrauen in die französische Mobilitäts-Webseite. Du befindest dich derzeit in der Halle 1&2, musst für den RER-Zug aber in die Halle 3. Du folgst den Schildern, die mit dem grünen D gekennzeichnet sind. Am Ende der Halle 3 erreichst du den Eingang zur RER-Station und stellst dabei leicht genervt fest, dass du für diese Strecke noch ein zusätzliches Ticket benötigst.
An einem der grünen Ticketautomaten lässt du dir für angenehm schlappe 2,10 Euro den nötigen Papierfötzel ausdrucken. Den 13.50-Uhr-Zug hast du aufgrund deiner Recherche verpasst, für den nächsten Zug um 13.58 Uhr reicht es aber noch. Noch immer leicht verunsichert steigst du in den rappelvollen Zug ein, wo du in deiner dicken Winterjacke innerhalb der nächsten 8 Minuten mehr Schweissperlen als in einer finnischen Sauna produzierst. Die Erleichterung ist gross, als du im Gare du Nord aus dem Zug trittst.
Es ist jetzt 14.06 Uhr, du hast also noch eine gute Stunde bis zur Abfahrt des Eurostars um 15.10 Uhr. Zeit, was zu futtern. Du nimmst die Rolltreppe hoch in die Haupthalle und lässt dich von deinem knurrenden Magen leiten. Du schlenderst vorbei an Restaurants, Cafés, Läden ... oh hier, Bücher! Der Bücherwurm in dir gewinnt die Oberhand. Du schmökerst dich durch die gesamte Literatur-Auslage, liest beinahe das gesamte erste Kapitel eines historischen Romans, bevor du zur Psychologie-Sektion übergehst und beim Greifen nach dem Buch «How to organize your mind» von Daniel Levitin wieder zur Besinnung kommst.
Wie spät ist es überhaupt??
Mit Schrecken stellst du fest, dass die Uhr bereits 14.31 Uhr anzeigt. Du solltest vielleicht besser mal herausfinden, wo du für den Eurostar genau hin musst. Du schaust auf deinem E-Ticket auf dem Handy nach, was dir den nächsten Schweissausbruch beschert: Schliessung der Gates 30 Minuten vor Abfahrt. In 9 Minuten.
«Merde!», denkst du auf Deutsch, weil du kein Französisch kannst, und eilst in die Haupthalle. Du lässt deinen Blick über die unzähligen Schilder schweifen, bist du sie siehst: die Treppe, die in den ersten Stock zu den Check-in-Gates für die Eurostar-Züge führt.
Dort kannst du dein Ticket entweder am Automaten oder am bedienten Schalter kontrollieren lassen. Der Vorteil vom bedienten Schalter: Hier kannst du den dir automatisch zugewiesenen Sitzplatz noch ändern. Da du aber keine Zeit mehr verlieren willst, scannst du dein Ticket am automatischen Gate. Nach dem Gate folgt zunächst die Passkontrolle durch die französische Polizei und unmittelbar danach diejenige durch die britische Grenzpolizei. Auch hier kannst du deinen Pass entweder am Schalter oder am Automaten checken lassen. An den Automaten gibt es kaum Wartezeit und so erreichst du die Gepäckkontrolle innert weniger Minuten.
Du schmeisst deinen kleinen Rollkoffer aufs Band, bist erleichtert, dass du nicht noch irgendwelche Flüssigkeiten aus dem Gepäck herauskramen musst und bist auch da schnell durch. Du schaust dich um. War's das? Ja. Jetzt befindest du dich in der Wartehalle. In 20 Minuten ist Abfahrt und dein Magen knurrt noch immer.
Schon findest du dich innerlich mit einem weiteren lampigen Kiosk-Sandwich ab, als du eine Bäckerei entdeckst. Du spurtest an die Theke, zeigst unbeholfen auf die Gebäcke, die du kaufen willst, blätterst dafür ein halbes Vermögen hin und lässt den Gaumenschmaus einpacken.
Beim Weitergehen entdeckst du einen L'Occitane-Shop und deine Nase übernimmt die Führung. Im Eiltempo schnüffelst du dich durch den Laden und nur die Lautsprecher-Stimme hält dich gerade noch davon ab, eine überteuerte Handseife mit Orangenblütenduft zu kaufen. Alle Passagiere nach London werden aufgefordert, sich zum Gleis zu begeben.
Du folgst den Menschen, die sich gerade alle simultan von ihren Bänken erhoben haben, nimmst die Rolltreppe hinunter zum Gleis und prüfst nochmals deine Wagen- und Sitznummer. Wenig später sitzt du in einem Zweier-Abteil am Fenster. Als sich der Zug schliesslich langsam in Bewegung setzt und du erfreut feststellst, dass du keinen Sitznachbarn oder Sitznachbarin hast, stellst du deinen Rucksack auf den Sitz neben dir und entnimmst daraus deinen eigentlich echt nicht so verdienten französischen Snack. Mit jedem Meter, der dich näher nach London bringt, verflüchtigen sich deine Reisestrapazen und als du schliesslich in dein knuspriges Baguette-Sandwich beisst, ist die Welt wieder in Ordnung.
Den Bahnhof St. Pancras Eurostar in London erreichst du bereits nach zwei Stunden und 20 Minuten – Achtung: Auf dem Ticket steht eine Stunde und 20 Minuten, was am Wechsel der Zeitzonen liegt. Da die Passkontrolle bereits vor der Abfahrt durchgeführt worden ist, kannst du den Zug und den Bahnhof in London ohne grossen Schnickschnack verlassen und dich dort ins nächste Abenteuer stürzen. Wie wär's mit ... Big Ben?
Die Rückreise erspare ich dir. Die gestaltet sich ähnlich – bzw. besser, wenn du dich besser organisierst als auf der Hinreise.
Es ist doch offenbar (überraschend) einfach. Eine siebenminütige Fahrt zum Umsteigen ist auch nicht viel anders als ein Terminalwechsel am Flughafen. Dass man sich natürlich vor der Reise (oder mindestens in den Stunden im ersten Zug) informiert, wie das funktioniert, sollte jedem der schon etwas Reiseerfahrung hat klar sein.
Wie kommt es übrigens, dass Du zwar nicht Französisch kannst, aber trotzdem in Paris in einem Büchergeschäft rumschmökerst?
Umd wie bei jeder Reise: sich vorher schlau machen hilft enorm.
PS: Wurde dieser Anti-Zug-Atikel von der Flugindustrie grsponsort?