Ein Griff zum Ordner – und Lara Jornod wüsste, wer ihre biologischen Eltern sind. Die Unterlagen befinden sich in einem Schrank im Haus der Familie in Muri bei Bern. Doch die 27-Jährige verspürt derzeit kein Bedürfnis, zu wissen, wie ihre leibliche Mutter, ihr leiblicher Vater heissen. Woher genau sie kommen, wie sie einst aussahen. «Was hätte ich konkret davon?», fragt sie.
Lara Jornod ist adoptiert worden. 1998 kam sie in Brasilien auf die Welt – 18 Monate später fing ihr neues Leben in der Schweiz an. «Meine leibliche Mutter war 16, als ich zur Welt kam. Sie gab mich zur Adoption frei, weil sie nicht zu mir schauen konnte», erzählt Jornod.
Die junge Frau spricht offen über ihre Geschichte. Sie hat kein Problem damit, neugierigen Menschen zu erklären, woher sie ursprünglich kommt – und weshalb sie anders aussieht als ihre Schwester und ihre Eltern. Was sie aber irritiert, ist die Reaktion, die sie dann manchmal erhält. «Ich höre oft: ‹Das tut mir leid›», sagt Jornod.
Denn dafür gibt es aus ihrer Sicht keinen Grund. «Ich empfinde meine Adoption heute als Glück», erzählt Jornod. «Ich bin sozusagen auserwählt worden.» Mittlerweile schätze sie das mehr als früher. Sie studierte, arbeitet heute als Junior-Marketing-Managerin in der Pharmaindustrie. «Ich spüre eine Verpflichtung, etwas aus meinem Leben zu machen. Ich habe eine Chance erhalten, und diese will ich nutzen», sagt die Bernerin.
So wie Lara Jornod sind um die Nullerjahre herum mehrere hundert ausländische Mädchen und Buben als Adoptivkinder in die Schweiz geholt worden. Heute sind es noch rund 30 pro Jahr. Und geht es nach dem Bundesrat, soll es bald gar keine internationalen Adoptionen mehr geben. Die Regierung sprach sich Anfang Jahr für ein Verbot aus.
Grund für das Umdenken sind mehrere Forschungsberichte, die gezeigt haben, dass es bei internationalen Adoptionen über Jahrzehnte zu «gravierenden Irregularitäten» gekommen ist. Tausende Kinder wurden illegal in die Schweiz geholt, Einträge im Zivilstandsregister gefälscht, fremde Kinder als leibliche ausgegeben. Die Behörden haben versagt. Der Bundesrat kam zum Schluss: Ein Verbot sei die einzige Möglichkeit, um irreguläre Praktiken zu verhindern und Kinder zu schützen.
Anders sieht es das Parlament: Die Rechtskommission des Nationalrats fordert die Regierung in einem Vorstoss auf, von ihren Plänen Abstand zu nehmen. Eine Petition von EVP-Nationalrat Nik Gugger – selbst aus Indien adoptiert – mit der gleichlautenden Forderung sammelte in wenigen Wochen über 10’000 Unterschriften.
Am Donnerstag wird sich nun der Nationalrat mit dem Thema befassen. Es ist davon auszugehen, dass der Rat seiner Kommission folgt. Es wäre ein klares Zeichen an den Bundesrat. Statt eines Verbots soll er eine Reform ins Auge fassen, mit der Missbräuche wirksam verhindert werden können. Die Regierung hat sich bereits offen gezeigt, auch diese Option zu prüfen.
Lara Jornod hofft darauf, ebenso wie ihr Vater. «Es sollte weiterhin die Möglichkeit geben, ein Kind aus dem Ausland zu adoptieren», findet die junge Frau. Einerseits für Paare, die sich unbedingt ein Kind wünschen und dafür keine Kosten und Aufwand scheuen. Andererseits für Kinder, da das Aufwachsen in der Schweiz nun mal ein Privileg sei. «Jede Adoption zählt. Man kann damit Leben verändern», sagt Jornod. Sie könne sich deshalb auch gut vorstellen, einmal selbst ein Kind zu adoptieren.
Vater Etienne Jornod empfindet den Grundsatzentscheid der Regierung gar als «Skandal». Er habe «unglaublich Mühe mit der Haltung des Bundesrats», sagt er. «Natürlich braucht es Verbesserungen im System, mögliche Unregelmässigkeiten müssen ernst genommen werden», so der Unternehmer und ehemalige Verwaltungsratspräsident von Vifor und NZZ. «Doch ein generelles Verbot ist unverhältnismässig und das falsche Mittel. Statt zu schützen, verhindert es.»
Seine Frau Katrin und er hatten sich einst für eine Adoption entschieden, weil sie dachten, keine leiblichen Kinder mehr bekommen zu können. Doch als die Adoption offiziell durchgeführt war, wurde Katrin Jornod völlig unerwartet schwanger.
Eine korrekte Adoption aus dem Ausland sei zwar mit enorm viel Aufwand verbunden, sagt Etienne Jornod – für Eltern und Behörden. In ihrem Fall habe der ganze Prozess über fünf Jahre gedauert. «Doch wenn sich Bürokratie auszahlt, dann da.»
Die im Grundsatz positive Erfahrung der Familie soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch für Lara Jornod nicht immer einfach war und ist, Adoptivkind zu sein. Die Familienbande sind eng, besonders tief ist die Verbundenheit mit ihrer Schwester Anne.
Und trotzdem: Jornod spricht von einem Gefühl von Alleinsein, wenn sie aufgrund ihrer Hautfarbe Rassismus erlebte. «Meine Familie versucht das zwar zu verstehen, doch sie hat es eben nicht selber erlebt», sagt Jornod. Sie wisse zwar, dass sie ein gleichwertiges Mitglied ihrer Familie sei – «doch diese Differenz wird immer da sein».
Gleichzeitig zögert sie, sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter zu machen – auch wegen der Ungewissheit, wie beide Seiten reagieren würden. Würde sich ihre Mutter überhaupt für sie interessieren? Würde sie selbst ihr Vorwürfe machen, wenn sie die genauen Umstände der Adoption kennen würde? Und was würde das für die Beziehung zu ihren Adoptiveltern bedeuten?
Jornods Eltern waren ihr gegenüber transparent, was ihre Herkunft anbelangt. «Sie haben immer gesagt, dass sie mit mir nach Brasilien reisen, wenn ich das will.» Lange habe sie das nicht interessiert, doch im Alter von zehn Jahren wollte sie plötzlich. Die Familie ging für zwei Monate nach Südamerika und besuchte das Waisenhaus, in dem Lara einst gelebt hatte. «Sie sagte, dass sie glücklich sei, Schweizerin zu sein – und dass sie zurück nach Bern wolle», erinnert sich ihr Vater.
«Ich sage ihr immer noch, dass ich – wenn sie will – morgen nach Brasilien fliege, um ihre leiblichen Eltern zu suchen», erzählt Vater Jornod. Er wünschte sich, dass Lara eines Tages Ja sagt – und den Ordner, in dem alle Unterlagen zur Adoption gesammelt sind, aus dem Schrank nimmt.