Normalerweise mach ich keine Interviews mit Menschen, die mich schon mal in Unterwäsche gesehen haben. Das ist eine Ausnahme. Denn Dominik Locher ist Regisseur. Ich musste für ihn Theater spielen. Ganz was Kleines. Aber irgendwer musste mich nach der Vorstellung aufschnüren. Ich glaub, es war Dominik.
Er selbst läuft eh am liebsten in Unterwäsche rum. In einem gerippten Unterhemd nämlich, dem sogenannten Wife Beater. Und einen Goldzahn hat er auch. Dominik lebt Testosteron. Und liebt Hollywood, Russland, Geschichten, seine Frau Lisa und seine beiden Kinder.
Dominik, woher kommt dein Goldzahn? «Ich war 17, 18 Jahre alt, ich hatte ein wenig Geld gespart, ich liebte Dostojewski und ging nach Russland. Nach Irkutsk in Sibirien, wo es ein Kino gibt und alle drei Wochen Konzerte, an denen sich die Jugendlichen verprügeln. Ich kannte ein Mädchen, sie war Punk, und nur wegen ihres Aussehens wurde sie in eine Anstalt gesperrt. Ich hab sie dort mal besucht, ihre Zelle hatte eine Tür mit einem Schiebefenster aus Eisen. Kennst du die Band Tattoo?» – «Die russischen Pseudolesben?»
«Die gaben ein Konzert in Irkutsk. Ich ging am gleichen Tag mit einem deutschen Freund durch die Stadt, ein paar arbeitslose Jugendliche sahen uns und dachten, wir seien schwul, weil der Freund lange Haare hatte. Sie verfolgten uns, wir flüchteten in eine deutsche Bäckerei, aber da hatten sie mich schon gegen die Wand geschlagen. Die Tür der Bäckerei war voller Blut, mein Zahn raus. Als sie begriffen, dass mein Freund Deutscher war, waren sie begeistert, wegen Hitler und so und wollten mit uns trinken gehen.»
«Ehrlich jetzt?» – «Nein, den Zahn verlor ich beim Eishockey-Spielen im Wallis. Der Rest ist wahr.» – «Arsch!» – «Es geht doch darum, eine tolle Geschichte zu erzählen!»– «Und den Zahn machte dir?» – «Ein polnischer Zahnarzt im Zürcher Hauptbahnhof.» – «Mit deinen Unterhemden sieht das irgendwie russisch aus. Oder wie Marlon Brando in ‹Endstation Sehnsucht›.» – «Nein, das hat nichts mit Putins Selfies zu tun, das ist schon so wie altes Hollywood gemeint.»
Sein zweites Kind kam vor drei Wochen zur Welt, vor einer Woche feierte er seinen 35. Geburtstag. Bei unserem Treffen in der Fontana-Bar unter den Arkaden von Locarno trägt er ausnahmsweise ein normales Hemd, «Lisa braucht das andere zum Stillen».
Lisa Brühlmann ist auch Regisseurin. Kurz vor der Geburt des zweiten Kindes schafften sie es, zwei Filme fertig zu stellen. Dominik wurde mit seinem «Goliath» zum Internationalen Wettbewerb in Locarno eingeladen, Lisa mit ihrem «Blue My Mind» zum grossen Wettbewerb im spanischen San Sebastian im September. Ein irres Jahr.
Da ist Jessy (Jasna Fritzi Bauer), fast noch ein Mädchen, die schwanger wird. Und ihr bubenhafter Kindsvater David (Sven Schelker), der in einem Kernkraftwerk Bürodienst macht. Sie werden nachts verprügelt. Er hat die grosse Männlichkeitskrise und geht pumpen. Und spritzt Steroide. Und wird mental zum Brutalo. Sie macht ihrerseits den ganzen Psychoterror, den Frauen so gut können. Ein Riiiiesenelend! Oder um es in den Worten meines Liebeslebens zu formulieren: «Wieso sind Heteros so böse miteinander?»
«Der ständige Geschlechterkampf!», sagt Dominik. Ist der jetzt besonders 2017? Als das Filmteam zum Thema junge Männer und Steroide recherchierte, stiessen sie auf Schweizer Lehrer, die sagten, die Sucht nach Anabolika sei aktuell die schlimmste unter männlichen Schülern.
«Aber dann«, sagt Dominik, «kam nach der Premiere in Locarno eine alte Frau auf mich zu, etwa 90, und sagte: Als ich jung war, gab es doch den gleichen Kampf auch schon. Man redete einfach nicht drüber. Und hätte nie einen Film darüber gemacht.» Doch, doch, in Hollywood schon. «Endstation Sehnsucht» oder «Jenseits von Eden» zum Beispiel, Filme wie Weltkriege zwischen Mann und Frau.
Er so: «In drei Jahren?» Sie: «Nein in einem!» Sie machten dann einfach beides, er besuchte in L.A. die Filmschule, dann kehrten sie in die Schweiz zurück.
Zur Welt gekommen ist Dominik 1982 in Aarau, «meine Eltern waren auf der Durchreise von Ost nach West». Die Geburt ist ein Zwischenstopp. Die nächsten Jahre verbringt er im Aargau, im Wallis, im Berner Oberland und in Genf. Der Vater ist Maurer, die Eltern trennen sich. Dominik und seine beiden Schwestern sind die ersten in der Familie, die studieren können.
Die Mutter träumt von lauter Wirtschaftsstudenten und davon, dass sie ihr ein Haus im Süden kaufen. Doch die drei Kinder gehen alle zum Film. Dominik wird Regisseur, seine Schwester Laura wird Kostümbildnerin, Joana macht erfolgreich Animationsfilme. «Wenigstens kann ich der Mutter jetzt das Filmfestival Locarno bieten», sagt Dominik, «vielleicht schenken ihr ja die Enkel das Haus im Süden, vielleicht werden aus denen eine Ärztin und ein Anwalt.»
Seine Frau wäre streng genommen noch im Wochenbett. Aber zum Glück ist die Hebamme auch mit nach Locarno gekommen und schaut zum Rechten. Die spielt übrigens auch in Dominiks Film mit, als Geburts-Vorbereitungs-Kurs-Leiterin. Und sie musste während des Drehs «die Babys» betreuen. Sechs Stück. Eins davon hat es am Ende in den Film geschafft. Es ist hervorragend. Zuerst kräht es wie am Spiess, aber dann macht es ein winzig kleines Geräusch wie ein zufriedenes Kätzchen und ist ruhig und selig. Wenn es je einen Jööö-Moment im Kino gegeben hat, dann den.
Okay, ich bin nicht ganz objektiv, was «Goliath» betrifft. Natürlich find ich den Film toll. Er ist böse, scharf und sehr, sehr sexy. Er fackelt nicht rum, er schlägt zu. In seinen gewaltfreien Sequenzen ist er bedrohlich. Und dazwischen rührend, hilflos und verzweifelt.
Wer gerade ein Kind erwartet, erträgt «Goliath» vielleicht nicht. Der soll sich lieber mit Dominik zum Bier treffen und zuhören, wie er vom Elternwerden schwärmt: «Da ist dieses Urvertrauen! Ein neues Selbstbewusstsein, eine neue Selbstverständlichkeit! Schon nach ein paar Sekunden weisst du, wie du ein Baby halten musst, damit es nie mehr runterfällt. Vorher ist alles so abstrakt.»
Im Film nicht. Im Film ist das Vorher, die Schwangerschaft, erstaunlich konkret. Bei ihr wächst der Bauch, bei ihm die Muskeln. Beide werden körperlich viel, viel mehr. Beide sind hormonell gestört. Zu viele Steroide sind wohl sowas wie die Schwangerschaft des Mannes.