Die Kirchen geniessen kraft der Bundesverfassung das Recht, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln. Das geschieht durch das Kirchenrecht – dieses besteht parallel zum staatlichen Recht.
Thier sagt: «Die Kirchen können also ihre internen Angelegenheiten grundsätzlich durch ihr eigenes Recht regeln. Aber das ändert nichts daran, dass das staatliche Recht, insbesondere das Strafrecht, auch im Verhältnis zu den Kirchen und ihren Mitgliedern anwendbar bleibt.»
Das Recht der römisch-katholischen Kirche ist auch bekannt als das kanonische Recht. Der Ordinarius, in den meisten Fällen ist das der Bischof, ist verpflichtet, eine Voruntersuchung einzuleiten, sobald er «eine wenigstens wahrscheinliche Kenntnis» von einer Straftat des kirchlichen Rechts erhält.
Nach Abschluss der Voruntersuchung muss bei gewissen Straftaten – insbesondere beim Verdacht des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger – unabhängig vom Ergebnis der Untersuchung das gesamte Dossier an das Dikasterium für die Glaubenslehre gehen. Das Dikasterium ist eine Behörde der römisch-katholischen Kirche. Diese führt das Verfahren fort und kann gegebenenfalls auch eine Strafe verhängen.
In anderen Fällen kann der Ordinarius (meistens der Bischof) selbst entscheiden, ob ein Prozess eingeleitet oder aber ein aussergerichtliches Strafdekret erlassen wird.
Thier sagt: «Allerdings ist er hierin keineswegs frei. Durch die Strafrechtsreform von Papst Franziskus ist bestimmt worden, dass der Ordinarius den Weg des Strafverfahrens gehen muss, wenn die ‹Gerechtigkeit› nicht durch pastorale Mittel, etwa eine Ermahnung oder ein Verweis, hergestellt werden kann. Bei Missbrauchsfällen wird das nicht der Fall sein. Der Ordinarius riskiert dabei unter Umständen sogar, selbst straffällig zu werden, wenn er eine Strafanzeige nicht weitergibt.»
Das Gericht, welches schlussendlich ein Urteil fällt, ist wiederum ein kirchliches Gericht.
Doch nicht alle Missbrauchsfälle gehen an das Dikasterium für die Glaubenslehre, also die verantwortliche kirchliche Behörde. «In jedem Fall ist es aber dem Ordinarius auch möglich, Schutzmassnahmen zu treffen und insbesondere zum Opferschutz Kontakt- oder auch Tätigkeitsverbote anzuordnen. Zugleich wird vielfach Strafanzeige erstattet. In der Schweiz hat die Bischofskonferenz eine entsprechende Anzeigepflicht beschlossen», so Thier.
Doch was passiert, wenn doch keine Strafanzeige erstattet und die Causa kirchenintern abgehandelt wird? «Im Fall sexuellen Missbrauchs droht dem Täter grundsätzlich die Entfernung aus seinem Amt, der Verlust seines Klerikerstatus und selbst die Exkommunikation – den Ausschluss der Kirche – ist grundsätzlich eine Möglichkeit», erklärt Thier. Das sei die Höchststrafe, die es im Kirchenrecht gebe.
Von verschiedenen Seiten wurden Vorwürfe laut, dass das Kirchenrecht Kleriker schützen würde, die sexuelle Straftaten begangen haben.
Thier ordnet ein: «Tatsächlich hat das kanonische Strafrecht lange Zeit dem Ordinarius sehr viel Spielraum bei der Entscheidung über die Einleitung eines Strafverfahrens oder auch die Verhängung einer Strafe gegeben.»
Er ergänzt: «Das hat sich aber mehr und mehr geändert. Die Strafrechtsreform von Papst Franziskus von 2021 ist zwar in einzelnen Elementen kritisch bewertet worden, aber gerade sie hat nach meiner Wahrnehmung sehr zu einer Verbesserung der Situation beigetragen. Ich würde deswegen immer versuchen, zwischen dem Gestern des kanonischen Rechts und seinem Heute zu unterscheiden.»
Gibt es einen Moment, in dem die staatliche Justiz informiert werden muss? «Das ist nicht so pauschal zu beantworten. Eine allgemeine Anzeigepflicht besteht nach weltlichem Recht nicht. Wichtig sind deswegen die kirchlichen Regeln, die gerade eine solche Informationspflicht festsetzen. Diese Regeln haben etwa die Bischofskonferenz und die Vereinigung der Höhern Ordensoberen Schweiz erlassen.»
Dennoch greift das weltliche Rechtssystem bei sexuellem Missbrauch in der Kirche oft nicht. Thier erklärt, dass verschiedene Faktoren zusammenspielen würden: «Die Befunde der Zürcher Studie, aber auch anderer Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Taten zum Teil vor den Strafverfolgungsbehörden verborgen wurden, weil die Beteiligten um die Reputation der Kirche insgesamt fürchteten. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung und eine Haltung, die gerade mit dem Selbstverständnis der Kirche unvereinbar war und ist.»
Er fügt an: «Teilweise hat vermutlich die lokale Reputation von kirchlichen Amtsträgern dazu beigetragen, dass eine Mauer des Schweigens entstand. Teilweise haben aber – wie auch im Kontext des weltlichen Rechts – Scham und Traumatisierung die Opfer bei der Anzeige solcher Vorgänge gehemmt.»
Nun sind aber über 1000 Fälle publik geworden. Kann die staatliche Justiz jetzt von sich aus aktiv werden? Thier sagt: «Davon gehe ich aus. Allerdings bedarf es dann raumzeitlich konkreter Anknüpfungspunkte. Auch für die Amtsträger der römisch-katholischen Kirche gelten die Regeln der Strafprozessordnung.»
Das ist völlig inakzeptabel und muss so schnell wie möglich geändert werden.
Sexuelle Übergriffe auf Minderjährige sind ein Offizialdelikt und keine “interne Angelegenheiten” einer Kirche oder Sekte.
Wo ein dringender Verdacht besteht sollte meiner Meinung eine Razzia im entsprechenden Archiv stattfinden.