Enis T.* ist 23 Jahre alt und lebt, wie viele seiner Freunde, bei den Eltern. Sein Alltagsleben unterscheidet sich aber grundlegend von jenem seiner Kumpels. Während diese zu Hause nichts bezahlen müssen, Partys schmeissen und in die Ferien verreisen, lebt Enis zurückgezogen - und spart, wo er nur kann. Zusammen mit seinem Bruder Adem unterstützt er seine Eltern - Vater Esad, 58, und Mutter Sabina, 53.
Nachdem er länger arbeitslos war, arbeitet Vater Esad zwar wieder temporär als Chauffeur. Dennoch ist er auf die Hilfe seiner Söhne angewiesen. Enis kauft sich deshalb kaum neue Kleider und gibt nie mehr als fünf Franken aus für das Essen an der Arbeit.
«Ich geniesse mein Leben auf meine Art und mit dem, was ich mir leisten kann», sagt er. «Ein Auto, das von A nach B fährt, reicht mir. Sonst bleibe ich zu Hause. Ferien an einem Strand oder irgendwo sonst finde ich nicht nötig. Das kann ich später nachholen.» Enis ist gelernter Polymechaniker, arbeitet als CNC-Dreher und macht nebenbei die Weiterbildung zum Techniker HF in Unternehmensprozessen.
Familie T. stammt aus Bosnien-Herzegowina und ist als Erste bereit, öffentlich darüber zu reden, wie sie trotz finanzieller Notlage ohne Sozialhilfe zurechtkommt. Und weshalb sie auf Sozialhilfe verzichtet: Sie will nicht in Gefahr geraten, weggewiesen zu werden. Es ist Sohn Enis, der erzählt. Die Familie will anonym bleiben, ohne Fotos von sich.
Eine Wegweisung von Ausländerinnen und Ausländern ist seit 2019 möglich, wenn sie «dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen» sind. Damals wurde das Ausländer- und Integrationsgesetz revidiert. Seither können die Behörden eine Niederlassungsbewilligung (C) auf eine Aufenthaltsbewilligung (B) zurückstufen. Eine B-Bewilligung muss jährlich erneuert werden. Das macht es möglich, Sozialhilfeempfänger schnell wegzuweisen - unabhängig davon, wie lange sie in der Schweiz leben.
Gegen dieses Vorgehen gibt es aber politischen Widerstand. Der Nationalrat hat einer parlamentarischen Initiative von SP-Nationalrätin Samira Marti und 37 Mitunterzeichnenden zugestimmt, die nun am Montag auch in den Ständerat kommt.
Marti will die Situation mit einer Ergänzung in Artikel 62 des Ausländergesetzes entschärfen: Ausländerinnen und Ausländer, die sich seit mehr als zehn Jahren «ununterbrochen und ordnungsgemäss» in der Schweiz aufhalten, sollen nicht mehr weggewiesen werden können, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Es sei denn, sie hätten ihre Situation «mutwillig» herbeigeführt oder mutwillig unverändert gelassen». Am Donnerstag wurde der Bundeskanzlei eine Petition überreicht, die von 16'914 Menschen unterzeichnet wurde.
Drei Mitglieder der Familie T. haben eine Aufenthaltsbewilligung B: Vater, Mutter und Sohn Adem. Einzig Sohn Enis, in der Schweiz geboren, hat inzwischen den Schweizer Pass. Ferid, dritter Sohn der Familie, war vor drei Jahren ausgewiesen worden.
Weshalb es so weit kam, ist der Familie bis heute nicht klar. War es wegen kleinerer Delikte in seiner Jugend? Oder hatte es andere Gründe? «Zur Zeit seiner Ausweisung war er temporär angestellt in einer Fabrik», erzählt Enis. «Letztlich wurde uns gesagt, Ferids Integration sei gescheitert, er müsse die Schweiz verlassen. Und das, obwohl er die Schweiz stärker als seine Heimat sieht als Bosnien.»
Familie T. war 1997 und 1998 in die Schweiz gekommen. Zuerst flüchtete der Vater 1997 nach dem Bosnien-Krieg, der von 1992 bis 1995 dauerte, illegal mit dem Zug in die Schweiz. Die Mutter folgte 1998 mit Adem und Ferid. Sie reiste von Kroatien per Boot nach Italien und dann in die Schweiz.
Zunächst bekam Familie T. den Flüchtlingsstatus. 2000 drohte sie ihn zu verlieren, die Behörden taxierten eine Rückkehr nach Bosnien als sicher. Da Vater Esad aber wegen des Kriegs unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt und deswegen in Behandlung war, erhielt die Familie die Aufenthaltsbewilligung B.
Vater Esad hatte in Bosnien eine Ausbildung zum Autolackierer abgeschlossen. In der Schweiz arbeitete er aber stets als Chauffeur. Das hatte mit seinen Sprachproblemen zu tun. Als er in die Schweiz kam, sprach er nur schlecht Deutsch.
Das hat sich inzwischen geändert. Dennoch war Vater Esad immer wieder über längere Zeit arbeitslos. Sohn Enis unterstützte ihn bei der Arbeitssuche, schrieb mit ihm bis zu 20 Bewerbungen pro Monat. «Trotz seiner grossen Erfahrung als Chauffeur wurde er stets als unqualifiziert bezeichnet.»
Obwohl die finanzielle Not teilweise sehr gross war, bezog Familie T. nie Sozialhilfe in 26 Jahren in der Schweiz. «Einerseits hatten wir Angst davor, dann ausgewiesen zu werden», sagt Sohn Enis. «Andererseits verbot es uns unser Stolz, Sozialhilfe zu beziehen. Wir sagten uns immer, dass wir es auch ohne schaffen.»
In den ersten Jahren sei die Angst sehr gross gewesen, ausgewiesen zu werden, sagt Enis. «Meine Eltern befürchteten, dass ihre drei Söhne dann keine gute Zukunft in Bosnien hätten.» Inzwischen ist die Angst kleiner. «Es gibt sie zwar noch», gesteht Enis. «Doch wenn man sie ständig im Hinterkopf hat, kann man nicht mehr richtig leben. Deshalb sagen wir uns: Letztlich geht es um die Familie. Solange wir zusammenhalten, ist alles gut.»
In den schlimmsten Zeiten konnte Familie T. auf die Hilfe einer Ordensschwester zählen, die auch eine Unterkunft vermittelte. «Die Schwester hat meine Familie aufgenommen und uns geholfen, Fuss zu fassen», sagt Enis. «Ihr haben wir viel zu verdanken. Sie hat uns unterstützt, wo sie nur konnte. Sie war eine riesengrosse Hilfe für uns.» Bis heute werde sie als Freundin der Familie von allen geliebt.
Inzwischen geht es Familie T. «besser», wenn auch «nicht ausgezeichnet», betont Enis. Er und Bruder Adem können mit ihrem Lohn sowohl die Eltern wie ihren ausgewiesenen Bruder Ferid unterstützen. «Für ihn, sagt Enis, ist es fast unmöglich, in unserem Heimatland einen Job zu finden.»
*Alle Namen sind anonymisiert und der Redaktion bekannt. (aargauerzeitung.ch)
Die Petition finde ich gut so.
Mir stellen sich Fragen, aber ohne Hintergrundinformationen etwas schwierig.
Fünf erwachsene Personen, die ein Einkommen verdienen könn(t)en, davon leben vier zusammen in einer Wohnung. Mir tut hier Enis Leid, der offensichtlich auf vieles verzichtet.
Weshalb man nicht genau weiss, warum der eigene Sohn weg ist, finde ich seltsam.
Ich kann aber nachvollziehen, dass in früheren Jahren die Zeiten sicher nicht einfach waren. Wie die Handhabung der Ausschaffung mit Kleinkinder ist, weiss ich nicht genau.