Herr Bieri, der heutige Abstimmungssonntag wartete kaum mit Überraschungen auf, einverstanden?
Urs Bieri: Das sehe ich auch so. Es waren zwei typischen Vorlagen zu beobachten: Die linke 99-Prozent-Initiative startete mit einem beachtlichen Ja-Anteil bei den ersten Umfragen, verlor dann aber am Schluss viel Zustimmung, wie die meisten Initiativen. Bei der «Ehe für Alle» war die Zustimmung von Anfang an hoch, was bei Behördenvorlagen meist in einer Zustimmung an der Urne endet.
Rund 35,9 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger waren gegen die «Ehe für Alle». Wer stimmte nein?
Es waren zwei Arten von Widerstand zu beobachten: Es gab die religiös-christlichen und freiheitskirchlichen Kreise, die sich für ein Nein aussprachen. Diese Kreise alleine hätten es aber nicht auf mehr als 30 Prozent geschafft. Während des Abstimmungskampfes kam die Diskussion um die Samenspende und das Kindswohl hinzu. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich auch einige Teile der SVP und der Mitte gegen ein Ja ausgesprochen haben.
Wirft man einen Blick auf die «Ehe für Alle»-Abstimmungskarte, ist sie doch mit der einen oder anderen roten Gemeinde gesprenkelt – und das, obwohl die Zustimmung mit 64,1 Prozent sehr hoch ist.
Abweichler gibt es immer, es sind die grösseren Räume, die entscheiden. Und dort war das Ja sehr deutlich. Interessant ist vor allem, wie sich die Gesellschaft weiterentwickelt hat. Der Ja-Anteil bei der Abstimmung zur eingetragenen Partnerschaft 2005 lag fast zehn Prozent tiefer. Das zeigt, dass die Schweiz in den letzten 15 Jahren gegenüber Diversität und individuellen Lebensformen offener geworden ist. Die Themen sind positiv besetzt und man war bereit, den Rückstand zum Ausland in Sachen «Ehe für alle» aufzuholen.
Weniger glücklich war der Ausgang der 99-Prozent-Initiative. Verglichen mit der Konzernverantwortungs-Initiative, einer anderen ebenfalls linken Initiative, hatte die Linke dieses Mal keine Chance.
Die Konzernverantwortungs-Initiative war eher die Ausnahme als die Regel. Damals haben es die Befürworterinnen und Befürworter geschafft, auch über das Linke Lager hinaus zu mobilisieren. Das ist dieses Mal nicht gelungen. Das Ergebnis der 99-Prozent-Initiative ist eher vergleichbar mit den Ergebnissen der Kapitalgewinnsteuer von 2001 (65,9% Nein-Stimmen) oder der Abstimmung zur 1:12-Initiative von 2013 (65,3% Nein-Stimmen).
Stört es die Leute einfach nicht, dass die Reichen immer reicher werden? Oder hat die Juso ihre Initiative zu schlecht verkauft?
Dass die Schere zwischen Arm und Reich gross ist, darüber ist man sich in der Bevölkerung eigentlich relativ einig. Der Abstimmungskampf fokussiert sich aber nicht darauf. Während der Hauptkampagne wurde nicht das Problem, sondern die Lösung diskutiert. Und bei der von der Juso vorgeschlagenen Lösung fokussierte man sich auf die Schwachstellen. So wurde zum Beispiel breit diskutiert, ob die KMU und der Mittelstand steuerlich stärker belastet würden. Kommt hinzu, dass die Gegnerschaft eine sehr effiziente, effektive und gut finanzierte Kampagne geführt hat.
Würden Sie trotz des tiefen Ja-Anteils von einem Achtungserfolg für die Juso sprechen?
Das ist immer eine Frage der Sichtweise und Flughöhe: Eine Abstimmung über eine Initiative kann drei Wirkungen haben. Wird sie nicht angenommen, kann sie sich auf zukünftige Gesetzgebungen auswirken. Damit rechne ich in diesem Fall aber eher nicht. Es war vor allem die linke Seite der Bevölkerung für die 99-Prozent-Initiative, das würde auch im Parlament bei Abstimmungen über Gesetze ähnlich aussehen. Zweitens kann eine Initiative öffentlich mittels Medien diskutiert werden. Doch auch das ist nicht wirklich gelungen. Auswertungen des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) haben gezeigt, dass das Thema nur am Rande besprochen wurde. Und drittens dient eine Initiative auch zur Mobilisierung der eigenen Organisation. Der Ja-Anteil zeigt, dass es nicht nur die Juso-Wählerinnen und Wähler waren, die der 99-Prozent-Initiative zustimmen. Darum würde ich sagen: Es ist ein Achtungserfolg im linken Werteraum.
Danke