Ein Windstoss zieht durch den Raum. Kurz zuvor muss jemand das Fenster geöffnet haben. Die Füsse des Hospizpersonals reihen sich den Wänden entlang auf. Dann schweifen alle Blicke zur Tür, in deren Rahmen sich die Umrisse eines hellen Holzsarges abzeichnen. Langsam rollt er an den Frauen und Männern vorbei, die die Person, deren Körper darin liegt, in den letzten Tagen, Wochen oder Monaten begleitet und umsorgt haben.
Jedes Mal, wenn jemand im Hospiz Zentralschweiz stirbt, stehen die Mitarbeitenden Spalier. Ein stiller Moment des Abschieds, als Zeichen des Respekts. Christa Zumstein hat dieses Ritual schon unzählige Male begleitet. Seit drei Jahren pflegt sie Menschen mit unheilbaren Krankheiten bis zu ihrem Tod. Menschen, deren Tumore dem Gesicht seine ursprüngliche Form rauben oder solche, deren Nerven derart geschädigt sind, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Im Hospiz, das mitten im Luzerner Stadtteil Littau steht, sind im Jahr 2024 165 Menschen gestorben – alle zwei bis drei Tage jemand.
Doch wenn Christa Zumstein über ihre Arbeit spricht, spürt man wenig von dieser Schwere. Stattdessen erzählt sie von der Erfüllung, die ihr Beruf ihr gibt, von der besonderen Verbundenheit mit ihrem Team, vom Gefühl des Miteinanders über alle Berufsebenen hinweg und von der Dankbarkeit, diesen Arbeitsort gefunden zu haben.
In einem kleinen Besprechungszimmer des Hospizes treffe ich die 55-Jährige zum Gespräch. Ich möchte von ihr wissen, wie man mit so viel Leid umgeht, so viel Endlichkeit. Wie man es schafft, trotz der Schwere, die einem aus den Zimmern doch unweigerlich entgegenschlagen muss, Leichtigkeit zu bewahren.
«Die Leute haben ein falsches Bild», sagt sie. «Die Atmosphäre hier ist warm, und wir lachen auch viel. Es ist eine Natürlichkeit im Umgang mit dem Thema Sterben spürbar.» Von den Fenstern des Zimmers blicke ich auf den Hauptteil des Hospizes und kann mich gleich selbst von ihren Schilderungen überzeugen. Mitarbeitende schreiten vorbei, ebenso wie Patienten und ihre Angehörigen. Sie sind kaum voneinander zu unterscheiden, denn alle Mitarbeitenden tragen Alltagskleidung. Es wird gelacht, diskutiert, Essen oder Material transportiert. Ein Ort, der überrascht – vielleicht, weil er so sehr dem Klischee widerspricht, das viele vom Sterben haben.
«Ich hatte schon früh einen natürlichen Umgang mit dem Sterben», erklärt Christa Zumstein. Dennoch hatte sie lange das Gefühl, für die Palliativpflege nicht bereit zu sein. «Mein Rucksack war einfach noch nicht gross genug. Das Sterben, dieser Übergang, ist zwar einerseits ein natürlicher, aber auch ein sensibler, ja intimer Prozess. Diesen zu begleiten erfordert viel Respekt und Feingefühl und nicht zuletzt grosses palliatives Fachwissen.» Erst nach Jahren in der Spitex und der Onkologie fühlte sie sich bereit – und kann sich heute keinen anderen Beruf mehr vorstellen.
Besonders in ihrer früheren Arbeit auf der Onkologie fiel es ihr oft schwer, Behandlungen durchzuführen, die sie nicht voll unterstützen konnte. «In der Schulmedizin gibt es diesen Automatismus, immer weiter zu therapieren und versuchen zu heilen – selbst wenn es nichts mehr zu heilen gibt.»
Im Hospiz ist es anders. Hier dürfen Menschen sterben – aber vor allem dürfen sie in Würde leben. Diese Haltung prägt Christa Zumsteins Arbeit. «Hier ist alles gradliniger. Es geht nicht darum, das Leben um jeden Preis hinauszuzögern, sondern darum, die Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt bestmöglich zu begleiten.»
Wenn sie über schwierige Momente spricht, wählt sie ihre Worte mit Bedacht: «Natürlich gibt es Situationen, die nahegehen. Wenn junge Menschen da sind, wenn Kinder involviert sind oder bei besonders schweren Leidensmomenten – da geht man auch mit.» Ihre sonst so hellen blauen Augen verdüstern sich.
«Ich erinnere mich an einen Mann mit ALS. Er konnte sich in den letzten Tagen kaum noch bewegen. Wir besprechen jeweils mit den Patienten, was sie brauchen, wenn das Leiden unaushaltbar wird. Er entschied sich zunächst für die Nachtsedation, damit er tagsüber noch mit seinen Angehörigen präsent sein konnte. Jeden Abend, bevor ich ihm das Beruhigungsmittel verabreichte, besprachen wir die Situation neu. Eines Abends sagte er, ich solle die Sedation am Morgen nicht mehr stoppen. Das war ein unglaublich schwerer Moment. Dass jemand eine so unnatürliche Entscheidung treffen muss, das hat mich beschäftigt. Ich habe mich dann von ihm verabschiedet und ihm für sein Vertrauen gedankt. Wir haben beide geweint.»
Innerhalb von zwei Tagen sei er gestorben. Christa Zumstein hält inne, ihr Blick schweift in die Ferne. «Ich habe mich danach gefragt, ob ich professionell genug war. Aber es hat mir gezeigt, dass ich noch berührbar bin. Und ich will berührbar bleiben. Es bleibt immer ein Balanceakt.» Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: «Doch ich wäre nicht hier, wenn ich jeden Tag weinen müsste. Ich bin geübt darin, im richtigen Moment da zu sein – und danach loszulassen.»
Abgrenzung ist für Christa Zumstein entscheidend, um in der Palliativpflege bestehen zu können. Ihr langer Heimweg ist einer der Puffer, die es ihr erlauben, von der Welt des Abschieds in eine Welt der Anfänge zurückzukehren. Auch ihre Enkelkinder, die sie jeden Freitag betreut, geben ihr Energie. «Das ist eine absolute Ressource für mich. So habe ich beide Enden – zu Hause die Leichtigkeit und Unbeschwertheit meiner Enkel, hier die Tiefe und den Abschied.» Es klingt, als würde sie die beiden Enden nehmen und sie zu einem Kreis zusammenführen.
Während Christa Zumstein von der Erfüllung ihrer Arbeit spricht, denke ich unweigerlich an meine eigene Erfahrung mit der Palliativpflege zurück. Als mein Vater vor drei Jahren an schwerem Krebs erkrankte, der unser beider Leben von einem Moment auf den nächsten auf den Kopf stellte, waren es die Pflegenden, die uns durch die grausamen Monate der Trauer trugen. Sie brachten uns zum Lachen, wenn der Nebel uns zu verschlingen drohte, brachten uns zu Essen, wenn wir vor lauter Ausnahmezustand unsere Bedürfnisse nicht mehr spürten und brachten uns zum Reden, als der Elefant im Raum nicht mehr auszuhalten war. Doch für diese Empathie zahlten auf der Palliativstation unseres Spitals viele einen hohen Preis. Sara*, «unsere» Pflegefachfrau, erzählte etwa offen von ihrem Burnout, und im tieferen Gespräch gab sie auch zu, wie anstrengend die Arbeit zuweilen ist. Nicht selten müsse das Palliativteam als Sündenbock herhalten und alle Frustrationen der Patienten auffangen. Die Schwere, die ihr in den Patientenzimmern oft entgegenschlüge, sei manchmal schwer auszuhalten.
* Name geändert.
Dass dies anders gehen kann, zeigt das Luzerner Hospiz, in dem Christa Zumstein arbeitet. Hier sorgt das Team aktiv dafür, dass niemand unter der Last der Arbeit zusammenbricht. Der Personalschlüssel ist mit 26 Pflegenden für bis zu 12 Patienten deutlich höher als in herkömmlichen Pflegeeinrichtungen. Zudem soll niemand mehr als 80 Prozent arbeiten – «der Psychohygiene wegen», erklärt Christa. Jeden Nachmittag um 13.45 Uhr treffen sich alle, die können, im Meditationsraum. «Wir nehmen uns eine Viertelstunde Zeit, um innezuhalten und durchzuatmen.» Für Gespräche, die mehr Raum brauchen, gibt es das «Zimmer 13» – ein spezieller Teil des täglichen Rapports.
«Hier habe ich gelernt, dass es weniger darum geht, als Einzelkämpferin zu pflegen, sondern gemeinsam das Beste zu geben. Es kann sein, dass ich jemanden mit meiner Art nicht erreiche. Damit habe ich meinen Frieden gefunden. Nach mir kommt jemand anderes, der vielleicht besser passt. Es ist ein Miteinander, es geht nicht um mich als Individuum.» Das Team scheint für Christa Zumstein ein Anker zu sein. «So eine bedingungslose Unterstützung habe ich noch selten erlebt.»
Plötzlich geht die Tür auf, und ein Schwall von angeregten Gesprächen dringt ins Zimmer. Das Team holt Christa Zumstein zur täglichen Patientenbesprechung ab. Eingehüllt in ihren grossen Schal, der sie wie ein Mantel umhüllt, verschwindet sie im Gang. Meine vielen Fragen bleiben im Raum hängen, doch eines wird mir klar: Für Christa Zumstein ist die Arbeit im Hospiz mehr als nur ein Beruf – sie ist eine Lebenshaltung. Sie scheint keine Angst davor zu haben, den Kreis des Endes und des Anfangs zu schliessen. Das Leben als ständiges Vergehen von Altem und Entstehen von Neuem anzunehmen. Als Verwandlung, die uns allen bevorsteht.
«Wir sehen ja, wie sich die Menschen verändern, wenn sie gestorben sind. Dieser Gesichtsausdruck, diese Entspannung – manchmal ein Lächeln auf dem Gesicht», hatte sie gesagt. «Da kann mir niemand erzählen, dass sie nicht an einem schönen Ort sind.»
Ich musste lange mit Ansehen, wie Menschen die ich liebte litten und trotzdem einfach nicht Sterben durften. Sie lebten nicht mehr sondern vegetierten sozusagen vor sich hin. Das Sterben war für sie dann eine Erlösung und auch für mich als Angehöriger.
Danke für Ihre wertvolle Arbeit Frau Zumstein ❤️.