Die Zahlen sind beeindruckend: Im Januar und Februar letzten Jahres wurden am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) 137 Kinder wegen einer schweren Grippe behandelt. 73 Fälle gab es wegen des Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV), das besonders bei Babys und Kleinkindern zu akuter Bronchitis führen kann. Dieses Jahr zählte das UKBB ganze zwei Fälle: Ein Kind hatte im Oktober eine Influenzainfektion, eines im Dezember. Mehr nicht. Null RSV-Infektionen. Und zwar seit dem Frühling 2020.
«Seit dem letzten RSV-Fall im März 2020 und dem letzten Influenzafall im Dezember 2020 traten diese beiden typischen Atemwegsinfektionskrankheiten am UKBB überhaupt nicht mehr in Erscheinung», sagt Martin Bruni von der Spitalkommunikation. Und dies, obschon seit Februar 2021 neu jeder Corona-PCR-Testabstrich am UKBB auch auf Influenza untersucht wird. Es ist also nicht so, dass wegen der Coronapandemie die anderen Infektionskrankheiten einfach übersehen werden.
Auch am Kinderspital des Luzerner Kantonsspitals sagt Michael Büttcher, Oberarzt für pädiatrische Infektiologie: «Wir hatten seit Oktober praktisch keine Fälle von Influenza und RSV.» Das Gleiche in der Klinik für Kinder und Jugendliche am Kantonsspital Aarau: Bisher ein einziger Fall mit RSV-Bronchiolitis, obwohl die Kinder-Infektstation sonst in den Wintermonaten «praktisch durchgehend mit diesem Krankheitsbild beschäftigt» sei, wie es seitens des Spitals heisst.
Das trifft auch auf die Situation bei den Erwachsenen zu: Seit Jahresbeginn verzeichnet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) von 905 untersuchten Proben bei Personen mit grippeähnlichen Symptomen einen einzigen positiv getesteten Fall mit Influenza. Die übrigen gefundenen Viren waren Infektionen mit Sars-CoV-2 (178), Rhinoviren (171), Adenoviren (20) und andere respiratorische Viren (52).
Die Grippe fällt dieses Jahr aus. Das BAG kann deshalb nicht sagen, wie gut der Impfstoff für diese Saison wirkt. Die ausbleibende Grippe ist auch der Grund, warum aus der extremen Übersterblichkeit wegen Covid-19 (November bis Januar) nun nach dem Rückgang der Fallzahlen seit Februar eine leichte Untersterblichkeit resultiert bei den über 65-Jährigen.
Die Lage ist auch bei grippeähnlichen Erkrankungen so entspannt wie sonst nur im Sommer. Der Grund liegt auf der Hand: «Das Social Distancing, Maskentragen und Händehygiene schützen auch vor anderen Viren», sagt Christoph Berger, Leiter der Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Universitäts-Kinderspital Zürich, wo man bis jetzt kein einziges Kind mit einer Grippe- oder RSV-Infektion hatte, obwohl rund 1300 Kinder beim Eintritt getestet wurden.
Dass die Fälle der übrigen Atemwegsinfektionen diesen Winter wegen der Pandemiebekämpfung zurückgehen würden, hat Berger erwartet, jedoch nicht in diesem Ausmass. Berger sagt:
Dass die meisten Atemwegsinfektionen kaum vorkommen, die Fälle von Sars-CoV-2 hingegen sogar wieder leicht ansteigen, beweist auch: Das neue Virus ist ansteckender als viele der bisherigen Erreger, speziell auch ansteckender als die Grippe.
Das Kantonsspital Aarau verzeichnet übrigens auch einen deutlichen Rückgang bei Kindern mit Magen-Darm-Infekten. Und die Pandemiemassnahmen hatten auch Auswirkungen auf die akute schlaffe Myelitis, eine Krankheit, die sich seit Jahren vor allem in den USA besorgniserregend ausbreitet und bei den erkrankten Kindern Lähmungserscheinungen hervorruft, wie einst das Poliovirus. Die Ärzte rechneten für 2020 mit einer neuen Welle – sie blieb aus.
Was die Konsequenzen aus einer Saison ohne Grippe und grippale Infekte sein werden, darüber könne man nur spekulieren, sagt Berger:
Dies besonders bei den Säuglingen: Babys durchleben alle einmal ihren ersten Winter und kommen mit einer Menge neuer Erreger in Kontakt. «Im nächsten Winter sind gleich zwei Jahrgänge von Babys zum ersten Mal mit diesen Viren konfrontiert. Das könnte bei uns im Spital zu einer Häufung führen.»
Finanziell bedeutet das: Jetzt sind viel Betten leer, und einige Kinderspitäler werden in einem Minus abschliessen. Nächsten Winter wird es aber keine zusätzlichen Betten geben.