Ein Politiker will Fast-Fashion verbieten, trägt aber Billigmode von Shein. Ist das heuchlerisch? Vermutlich schon.
Das Beispiel ist erfunden. Doch es zeigt prägnant, wie es wirkt, wenn Politikerinnen und Politiker das eine fordern und das andere tun.
Eine drastische Forderung haben die Grünen in diesem Frühling in einem Arbeitspapier formuliert: Sie wollen bei Neuvermietungen und Neubauten von Wohnungen eine Mindestbelegung einführen – wenn diese in Gebieten mit angespannter Situation auf dem Wohnungsmarkt und «unterbelegten Wohnungen» liegen. Wie diese Gebiete genau definiert werden sollen, ist unklar.
Als «unterbelegt» gilt gemäss den Grünen eine Wohnung, wenn eine Person mehr als 46,3 Quadratmeter Wohnraum beansprucht. So viel Fläche belegt eine Person in der Schweiz laut des Bundesamts für Statistik durchschnittlich.
Wir wollten herausfinden, wie durchschnittlich die Grünen Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind: watson hat bei allen 35 gewählten Vertretern im National- und Ständerat nachgefragt, auf wie viel Quadratmetern sie selbst wohnen.
Antworten? Fehlanzeige.
Per Telefon sagte eine Grüne-Nationalrätin der watson-Redaktion, dass man die Anfrage unter den Grünen-Parlamentariern diskutiert habe. Mit Antworten sei aber nicht zu rechnen.
Bis auf eine Ausnahme: Die Berner Nationalrätin Natalie Imboden packt als Einzige aus. Sie schreibt: «Persönlich wohne ich mit meiner Familie in einer Wohnbaugenossenschaft mit Belegungsvorschriften in der Stadt Bern. Wir leben zu dritt in einer Wohnung von insgesamt rund 98 Quadratmetern, was pro Person einen Verbrauch von knapp 33 Quadratmetern macht.» In dieser Wohnung lebte Imboden bereits vor ihrer Wahl in den Nationalrat.
Das ehrenamtliche Vorstandsmitglied beim Berner Mieterinnen- und Mieterverband hält also ein, was ihre Partei fordert. Sie betont jedoch, dass sie auch andernfalls geantwortet hätte. «Da ich beim Thema Wohnen schon lange aktiv bin, war es für mich klar, hier transparent zu sein. Das hätte ich auch gemacht, wenn ich in einer Eigentumswohnung leben würde – oder in einem Haus auf dem Land, wie ich aufgewachsen bin.»
Doch wie erklärt sie sich die fehlende Transparenz der 34 übrigen gewählten Grünen Parlamentarierinnen und Parlamentariern?
Natalie Imboden findet, es komme darauf an, wo man die Grenzen ziehe. «Wenn ich mich politisch für Bio-Baumwolle einsetze, dann will ich nicht im Nationalrat als Beweis meine Socken zeigen müssen, ob diese jetzt aus Bio-Baumwolle bestehen», sagt sie. Als Grünen-Politikerin sei sie auch dafür, Flugreisen absolut auf einem Minimum zu halten, aber ein generelles Flugverbot sei nicht die logische Folge.
Es gehe darum, politisch glaubwürdig zu sein. Doch das habe auch Grenzen. Wohnsituationen ändern sich nicht so schnell wie die eingangs erwähnte Fast-Fashion: «Nicht jede Lebenssituation erlaubt es, in eine bezahlbare Wohnung zu ziehen, wo man Platz sparen kann – um auf die 46,3 Quadratmeter pro Person zu kommen.»
So sagt die Grünen-Nationalrätin: «Gerade, weil beispielsweise ältere Personen, die lange in ihrer Stadtwohnung lebten, Schwierigkeiten haben, etwas Neues zu finden, forderte unsere Partei das Recht auf Wohnungstausch.»
Sie habe Glück gehabt, dass sie eine passende Wohnung gefunden hätte – schweizweit seien nur 5 Prozent aller Wohnungen gemeinnützig. «Ich unterstütze daher die Forderung, dass beim Neubau 50 Prozent gemeinnützige Wohnungen gebaut werden sollen.»
Das Generalsekretariat der Grünen sagt zum Schweigen ihrer anderen Parlamentarierinnen und Parlamentarier: «Wir sind eine politische Partei, die sich für die Gestaltung der politischen, systemischen Rahmenbedingungen der Wohn-Politik einsetzt – und nicht für das Beurteilen der Wohnsituation einzelner Personen.» Ob sie ihre private Wohnsituation offenlegen wollen, müssten die gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentarier letztlich persönlich entscheiden.
Entschieden haben sich die Grünen dafür über ihre geforderten Massnahmen: In der Frühlingsession wurde dazu ein Postulat an den Bundesrat eingereicht.
Die Landesregierung antwortete am vergangenen Mittwoch auf den Prüfungsauftrag der Grünen und beurteilte die vorgeschlagenen Massnahmen als «nicht zielführend». Der Bundesrat beantragte deshalb, das Postulat der Grünen abzulehnen.