Anfang 2022 hofften viele auf etwas Ruhe und Erholung nach zwei schwierigen Jahren, die durch die Coronapandemie bestimmt waren. Es kam bekanntlich anders. Der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine war mehr als eine Drohkulisse. Am 24. Februar wurde daraus blutiger Ernst. Der Ukraine-Krieg war das Topthema des Jahres.
Er trug entscheidend dazu bei, dass sich die bereits anziehende Inflation verstärkte. Die Notenbanken versuchten, mit teilweise drastischen Zinserhöhungen Gegensteuer zu geben. Dennoch leiden viele Menschen unter den gestiegenen Preisen. In der Schweiz wirkt der «Prämienschock» bei den Krankenkassen als versteckter Inflationstreiber.
Lichtblicke waren selten. Dazu gehörten die Zwischenwahlen in den USA, bei denen den Republikanern nicht der erhoffte Durchmarsch gelang. Oder der Wahlsieg von Lula da Silva in Brasilien gegen den Rechtspopulisten und Regenwald-Abholzer Jair Bolsonaro. Man kann auch die mutigen Menschen im Iran erwähnen, die sich gegen das Regime auflehnen.
Insgesamt aber war 2022 kein Freudenjahr. Die Welt ist nochmals ein Stück instabiler und unberechenbarer geworden. Wird 2023 alles besser? Prognosen sind schwierig, besonders nach den jüngsten Erfahrungen. Man kann es machen wie der russische Ex-Präsident und Ober-Kriegshetzer Dmitri Medwedew und irgendwelches abstruses Zeugs behaupten.
Dennoch sei hier ein Ausblick versucht, ohne Gewähr für die Richtigkeit.
Die grosse Frage lautet: Wird der Krieg 2023 enden? Manche Experten gehen eher davon aus, dass es zu einem womöglich jahrelangen Zermürbungskrieg kommen wird, in dem sich keine der beiden Seiten durchsetzen kann. Aber eigentlich können weder die Russen und schon gar nicht die Ukrainer daran interessiert sein, denn am Ende würden beide verlieren.
Russland versucht deshalb, die Zivilbevölkerung mit Raketen- und Drohnenterror in die Knie zu zwingen. Das aber hat schon bei den Deutschen im Zweiten Weltkrieg nicht funktioniert. Die Regierung in Kiew wiederum muss eine zunehmende Kriegsmüdigkeit im Westen fürchten, von dessen finanzieller und militärischer Unterstützung ihr Überleben abhängt.
Es wäre keine Überraschung, wenn es schon im Winter zu einer neuen Offensive kommt, eventuell an der Südfront in Richtung Melitopol. Je mehr besetzte Gebiete die Ukraine zurückerobern kann, umso eher dürfte der Kreml zu ernsthaften Verhandlungen bereit sein. Vielleicht kommt es sogar zu einer «Palastrevolution» gegen Wladimir Putin.
Nach monatelangen Protesten ist das Mullah-Regime angeschlagen. Es kann seine Macht nur mit grösster Brutalität verteidigen, durch Hinrichtungen oder indem es die Familie von Fussballidol und Regimekritiker Ali Daei buchstäblich vom Himmel holt. Im Prinzip verfügt es nach wie vor über beträchtliche Ressourcen zur Niederschlagung des Unmuts.
Ob das Regime durch den Volksaufstand gestürzt werden kann, bleibt zweifelhaft. Plausibler ist eine Revolte innerhalb des Systems. Selbst schiitische Geistliche und hohe Würdenträger kritisieren die menschenverachtende Politik von «Revolutionsführer» Ali Chamenei. Die Geschichte lehrt, dass in solchen Fällen Veränderungen häufig von innen erfolgen.
Lange galt die Volksrepublik China als Garant für Stabilität und Wirtschaftswachstum. Das hat sich nicht erst seit dem irrationalen Umschalten von Zero Covid zur Durchseuchung geändert. Unter Xi Jinping hat sich das kommunistische Regime ideologisch verhärtet. Auch wirtschaftlich ist China angeschlagen, besonders durch die ungelöste Immobilienkrise.
Häufig tendieren autoritäre Regime in solchen Fällen zur aussenpolitischen Eskalation. Ein Angriff auf Taiwan ergibt aber wenig Sinn. Zu gross sind die damit verbundenen Risiken. Lecks im Pekinger Machtzentrum deuten zudem auf Unruhe im Parteiapparat hin. Xi sitzt vielleicht nicht so fest im Sattel, wie es nach dem Parteitag im Oktober den Anschein hatte.
Die Präsidentschaftswahl findet im November 2024 statt, doch das Bewerberfeld wird schon im neuen Jahr Konturen annehmen. Im Januar dürfte Präsident Joe Biden ankündigen, ob er eine zweite Amtszeit anstrebt. Vieles deutet darauf hin. Falls Biden es nochmals wissen will, wird er kaum innerparteiliche Konkurrenz erhalten, trotz Bedenken wegen seines Alters.
Ganz anders sieht es bei den Republikanern aus. Ex-Präsident Donald Trump hat seinen Hut bereits in den Ring geworfen, doch sein Loser-Image zieht ihn erbarmungslos in die Tiefe. Man darf Trump nie abschreiben, dennoch ist es wahrscheinlich, dass sich schon bald weitere Bewerber (Ron DeSantis, Mike Pence etc.) aus der Deckung wagen werden.
In den westlichen Ländern sind keine grossen politischen Weichenstellungen traktandiert. Allenfalls kommt es in Grossbritannien zu vorgezogenen Neuwahlen, wenn die Tories das Land weiter Richtung Abgrund treiben. Eine Parlamentswahl ist auch in Frankreich möglich, weil Präsident Emmanuel Macrons Partei keine Mehrheit hat.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit dürfte das NATO-Land Türkei stehen. Spätestens am 18. Juni finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan steht hauptsächlich wegen der tiefen Wirtschaftskrise im Gegenwind, und die Opposition hat sich zu einem Sechs-Parteien-Bündnis zusammengeschlossen.
Ein Präsidentschaftskandidat ist noch nicht bestimmt. Beste Chancen hätte wohl der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Erdogan versucht deshalb, ihn mithilfe der Justiz und fadenscheinigen Vorwürfen politisch kaltzustellen. Das zeigt, wie nervös der Staatschef ist, und dass er sich mit legalen Mitteln nur schwer an der Macht halten kann.
Die Wirtschaft lieferte 2022 ein zwiespältiges Bild. Einerseits war ein Corona-Nachholeffekt spürbar, was den Personalmangel in vielen Ländern verstärkte. Gebremst wurde sie durch die Inflation, die damit verbundenen Zinserhöhungen und anhaltende Lieferkettenprobleme. Nun deutet einiges darauf hin, dass die Teuerung ihren Höhepunkt überschritten hat.
Vieles hängt von der Energieversorgung ab. Im Winter 2023/24 könnte es eng werden, wenn Russland kein Gas mehr liefert. Es ist möglich, dass die Speicher in Europa trotzdem gefüllt werden, aber die Preise werden höher bleiben als vor dem Krieg. Auch muss sich zeigen, ob die drei letzten AKWs in Deutschland wirklich am 15. April abgeschaltet werden.
Die Schweiz steht besser da als andere Länder, doch auch hier bleibt die Energieversorgung eine Herausforderung. Der neue UVEK-Chef Albert Rösti muss den von seiner Vorgängerin aufgegleisten Mantelerlass durchs Parlament bringen. Und am 18. Juni droht ein Showdown gegen seine SVP, falls das Referendum gegen das Klimaschutzgesetz zustande kommt.
In der Schweiz stehen die eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober im Zentrum. Ein guter Indikator sind jeweils die Wahlen im Kanton Zürich, die am 12. Februar stattfinden. Eine Wiederholung der «grünen Welle» von 2019 ist nicht absehbar, auch wenn die Grünliberalen zulegen und zu den grossen Siegern des Wahljahres 2023 werden dürften.
Die Grünen werden ihren Wähleranteil vielleicht halten können. Zur Verliererin dürfte die SP werden. Im bürgerlichen Lager muss man sich auf Gewinne für die SVP gefasst machen, denn die Zuwanderung könnte nach einigen Jahren relativer Ruhe erneut zu einem Thema werden, besonders wegen des Personalmangels und des abflauenden Wohnungsbaus.
Schwierig bleibt es im Europadossier. Der Bundesrat dürfte bis zu den Wahlen auf Zeit spielen und in Brüssel weiterhin die Lage sondieren. Danach könnte ein neues Verhandlungsmandat verabschiedet werden. Und auf Ende 2023 könnten gleich zwei welsche Bundesräte zurücktreten: Alain Berset (SP) und Guy Parmelin (SVP).