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Ärztemangel in der Schweiz: Warum Assistenzärzte ihren Job aufgeben

29.12.2021, Berlin: Eine Assistenzärztin schiebt auf der Intensivstation des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe das Krankenbett eines Covid-19-Patienten. (Wischeffekt durch Mitziehen) Foto: Christop ...
Immer am Rennen: Assistenzärztinnen und -ärzte wollen das nicht mehr.Bild: DPA

«Ändert sich nichts, fliegt uns das alles bald um die Ohren!» – Assistenzärztin packt aus

Die Schweiz steuert auf einen Ärztemangel zu. Immer mehr Assistenzärztinnen brechen ihre Ausbildung ab. watson hat mit einer von ihnen gesprochen. Und mit einer Assistenzärztin, die im Beruf bleiben möchte. Weil ihr Spital schon einiges richtig macht.
16.02.2024, 06:0031.03.2025, 15:47
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«Geh, solange du noch kannst!» – das war der erste Satz, den Alina (Name geändert) an ihrem ersten Tag als Praktikantin in einem Spital hörte. Gerufen hat ihn eine Assistenzärztin. Sie machte keine Witze. Sie meinte es ernst.

«Da kamen mir zum ersten Mal Zweifel an meinem Berufswunsch, Ärztin zu werden», sagt Alina. Die Faszination für den menschlichen Körper und der Wunsch, in ihrem Job Leuten helfen zu können, überwogen aber. Vorerst. Also machte Alina weiter. Absolvierte das Praktikum, schloss ihr Masterstudium in Medizin ab und begann 2023 an einem Ostschweizer Spital als Assistenzärztin.

Heute hat sie das erste von zwei Assistenzjahren hinter sich. Ihre Zweifel, ob sie im Beruf bleiben möchte, sind dadurch jedoch nur noch stärker geworden.

Mit diesem Gefühl ist Alina nicht allein. Die Vereinigung der Medizinstudierenden (Swimsa) spricht in ihrem kürzlich veröffentlichen Bericht über die Situation der medizinischen Fachkräfte von einem «besorgniserregenden Trend».

34 Prozent denken über Abbruch nach

2300 Medizinstudierende befragte die Swimsa. 34 Prozent gaben an, ernsthaft in Betracht zu ziehen, ihre praktische Ausbildung abzubrechen. Der Grund: schlechte Arbeitsbedingungen.

Von solchen kann Alina viel berichten. Dabei hat sie «noch Glück», wie sie sagt. Für ihre Einarbeitung nahm man sich an ihrem Spital eine ganze Woche Zeit. Eine Ausnahme. 80 Prozent der Assistenzärztinnen erhalten nicht einmal die vorgeschriebenen vier Stunden strukturierte Fortbildung, wie der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen (VSAO) im Januar 2023 mit einer Umfrage unter 3200 Assistenz- und Oberärzten ermittelte.

Alina muss an ihrem Spital zudem «nur» 48 Stunden in der Woche arbeiten. Auch das ist eine Seltenheit. Gemäss VSAO müssen Assistenzärztinnen meist 50 Stunden in der Woche arbeiten. Effektiv leisten sie aber häufig mehr als 56 Stunden in der Woche.

Auch Alina arbeitet effektiv deutlich mehr als 48 Stunden pro Woche. «Aber ich kann wirklich alle meine Überstunden aufschreiben.» Sie sagt diesen Satz, als wäre es eine Besonderheit, dass ihr Arbeitgeber das Arbeitsgesetz einhält. Und das ist es wohl auch. Denn jeder fünfte Assistenzarzt hat schon erlebt, dass Vorgesetzte sie unter Druck setzen, damit sie ihre Überzeit nicht wahrheitsgetreu eintragen, wie eine Umfrage der NZZ unter Assistenzärztinnen und -ärzten 2023 zeigte.

So kann es nicht mehr weitergehen, finden die jungen Assistenzärztinnen und Assistenzärzte. Im Kanton Zürich kündigte der VSAO aus Protest gegen die hohe Arbeitslast per Ende 2023 darum sogar ihren Gesamtarbeitsvertrag mit den kantonalen Spitälern.

Der Zürcher Berufsverband fordert, dass Assistenzärztinnen und -ärzte künftig nur noch 42 Stunden in der Woche arbeiten müssen und Anspruch auf vier Stunden strukturelle Weiterbildung bekommen – die ebenfalls als Arbeitszeit angerechnet werden müssen. Um auf ihr Anliegen und die schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen, veröffentlichte der VSAO Zürich im Februar sogar einen Song inklusive Musikvideo mit dem Titel: «Zweievierzg Stund».

Die Umsetzung des Videos geht auf die Eigeninitiative der Zürcher Assistenzärztinnen und -ärzte zurück, der Berufsverband hat es veröffentlicht, weil er die Forderungen unterstützt.Video: YouTube/Aktion 42 + 4h

Wenn Samstage nur zum Schlafen da sind

Trotz all dem «Glück», das Alina an ihrem Spital zu haben scheint, sagt sie:

«Ich bin massiv überlastet.»

Da wäre einerseits der ständige Stress wegen der hohen Patientenlast. «Realistisch wären sieben Patienten am Tag. In der Realität habe ich auch mal 17», sagt Alina. Das bedeute: Fliessbandarbeit. Das Menschliche bleibe völlig auf der Strecke.

Andererseits arbeitet Alina oft durch. Eine Pause gibt’s höchstens am Mittag für 45 Minuten. Theoretisch. «Meistens habe ich 20 bis 30 Minuten Mittagspause.» Während dieser Zeit bleibt sie durchgehend erreichbar. Bereit, aufzustehen und zu rennen. Dorthin, wo es gerade brennt.

Zur Ruhe kommt sie so nicht. Der Berg an Arbeit wird indes trotzdem nicht kleiner. Das zermürbt, erschöpft. Körperlich und psychisch. Sie sagt:

«Wenn ich am Freitag nach Hause komme, bin ich einfach nur leer.»

Viele Samstage hat Alina schon nur mit schlafen verbracht. Ihr Umfeld sieht sie seit Antritt der Stelle selten. Hobbys geht sie kaum noch nach. Keine Zeit. Keine Energie. Manchmal nicht einmal, um sich Abendessen zu machen. Und schon gar nicht, um selbst einmal zum Arzt zu gehen.

Überlastung gefährdet Patienten

Unter diesen Umständen den Überblick über alle Patientinnen zu behalten, ihr Wohl zu verantworten, sei eine tägliche Herausforderung. «Nein, eigentlich ist es belastend. Denn ich finde es gefährlich.»

Theoretisch müsste Alina die Verantwortung nicht alleine tragen. Sie befindet sich schliesslich noch in der Ausbildung. Sollte Fehler machen dürfen, weil erfahrene Ärztinnen und Ärzte da sind, die noch einen Blick auf ihre Arbeit werfen könnten. Sollten. Aber nicht tun. Keine Zeit.

A man speaks to a doctor at "Ospidale Val Muestair" hospital after having his broken lower leg plastered, pictured on February 17, 2012, in Santa Maria in the canton of Grisons, Switzerland. ...
Weder für die Patienten noch die Assistenzärztinnen haben Ärzte an den Spitälern Zeit.Bild: KEYSTONE

Alina hat darum bereits viele Nächte wachgelegen. Aus Angst, im Stress eine falsche Entscheidung getroffen, etwas übersehen zu haben. Was schwerwiegende Folgen für den Patienten mit sich ziehen könnte.

Das ist eine begründete Angst. 60 Prozent der von der VSAO befragten Assistenz- und Oberärztinnen gaben an, bereits Zeuge eines medizinischen Fehlers geworden zu sein, der auf die Übermüdung eines Arztes zurückgeführt werden kann. Das sind 21 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren.

«Komplett ineffiziente» Büroarbeit

Ein Grund für die zunehmenden Fehler könnte sein: Zu den Aufgaben der Ärztinnen sind in den letzten Jahren immer mehr administrative Tätigkeiten dazugekommen. Darum ist Alinas Schicht nach dem Abarbeiten aller Patientinnen auch nicht fertig. Die Büroarbeit wartet. Eine «oft komplett ineffiziente» Arbeit, wie sie sagt.

Erschöpfte müde Ärztin Symbolbild
Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: die Büroarbeit.Bild: Shutterstock

Das digitale Patientendossier lässt immer noch auf sich warten. Die Kommunikation zwischen Praxen, Spitälern, Spezialisten findet auf verschiedensten Kanälen statt.

Das eine Röntgenbild kommt per Mail, das andere Laborergebnis brieflich. Und manchmal erhält Alina einzig einen von Hand geschriebenen Bericht eines Hausarztes, den sie dann mühsam ins System ihres Spitals abtippen muss. Ein System, das pro Klick bis zu zwanzig Sekunden braucht, um zu laden.

Schweiz steuert auf Ärztemangel zu

«Ich kann mir je länger, je weniger vorstellen, unter diesen Bedingungen langfristig als Ärztin arbeiten zu wollen», sagt Alina. Denn das Schlimmste sei: Ein Ende der Strapazen sei nicht in Sicht. Ist Alina voll ausgebildete Ärztin, geht der Alltag genau gleich weiter. Einfach mit noch mehr Verantwortung.

Ein Leben für den Job. «Lohnt sich das?», fragte Alina in ihren Zweifeln eine Oberärztin an ihrem Spital. «Rückblickend bin ich mir da nicht sicher», habe die Oberärztin geantwortet.

Dass der Beruf anspruchsvoll sein werde, man grosse Verantwortung trage, ausserhalb der Bürozeiten arbeite, auf all das habe sie sich eingestellt. Nicht aber auf diese durchgehende Erschöpfung. Und das komplett abhandenkommende Privatleben. Alinas Fazit:

«Ich bin nicht bereit, nur für meinen Job zu leben. Und die Generationen, die nach mir kommen, sind es noch weniger. Wenn sich nicht grundlegend etwas an den Arbeitsbedingungen ändert, fliegt uns das alles bald um die Ohren!»

Alina übertreibt nicht. Die Schweiz kann bereits heute ihren Bedarf an Ärzten nicht selbst decken. Deshalb rekrutiert sie 40 Prozent aus dem Ausland, wie Swimsa in ihrem Bericht schreibt. Doch diese Strategie kann nicht mehr lange aufgehen. Auch in den Nachbarländern sucht man inzwischen händeringend nach Ärztinnen. Gemäss Schätzungen von PWC werden uns bis im Jahr 2040 darum 5500 Ärzte fehlen.

Ein Licht am Ende des Tunnels

Dass gerade die Spitäler viel tun könnten, um dieser düsteren Zukunft entgegenzuwirken, zeigt das Beispiel von Eva (Name geändert). Sie hat soeben das zweite Jahr als Assistenzärztin abgeschlossen. Auch sie berichtet von einem «harten Einstieg», von schlaflosen Nächten, Ängsten, Erschöpfung, Überforderung.

Lange haben diese negativen Aspekte des Berufs aber zum Glück nicht angehalten. Weshalb? Evas Antwort:

«Die Mentalität der Klinikleitung macht einen riesigen Unterschied.»

Als sie in kurzer Zeit 100 Überstunden angehäuft hatte, suchte ihre Klinikleitung den direkten Kontakt. Nicht um Druck zu machen, sondern um zu ergründen, wie sie Eva unterstützen kann.

Diese Vorgehensweise tat Wunder. Im zweiten Jahr fühlte sich Eva schon routinierter, selbstsicherer. «Auch, weil ich ein super Team hatte», sagt sie. Ihr Team habe sich Zeit nehmen können und wollen, um ihre medizinischen Entscheidungen bei Bedarf zu überprüfen oder Fragen zu beantworten. Auch habe man sie unterstützt, wenn sie überfordert war. Ob mit Gesprächen, Tipps oder indem man ihr Arbeit abnahm.

«Es ist nicht alles perfekt, aber vieles läuft schon gut», sagt Eva. Wohl auch weil sich ihr Spital bemüht, kann sie heute sagen:

«Ich weiss nicht, ob ich wirklich mein Leben lang Ärztin sein will. Aber ich kann es mir zumindest vorstellen.»

Dieser Satz zeigt: Es gibt noch viel Luft nach oben. Aber es tut sich auch etwas an den Spitälern und Kliniken. Die Frage ist nur, ob sich das Gesundheitssystem schnell genug reformieren kann, bevor nicht nur ein Pflegepersonal- und Fachkräftemangel, sondern auch ein akuter Ärztemangel unsere Gesundheitsversorgung bedroht.

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282 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Chnebeler
16.02.2024 06:22registriert Dezember 2016
Ich wage mal zu behaupten, diese Zustände haben viel mit der starken Privatisierung des Gesundheitswesens zu tun! Alles muss auf Teufel komm raus rentieren. Wann endlich merken die Politiker, dass Grundversorgung nicht rentabel sein kann und darf! Das gilt für das Gesundheitswesen wie auch für die Energieversorgung.
Ich danke allen, welche den Aufwand und die Belastung auf sich nehmen. Und eine Bitte an alle Mitbürger: Denkt das nächste mal daran, dass wir auf Ärzte, Pflegepersonen, Verkäuferinnen, Supportmitarbeiter etc angewiesen sind. Daher behandelt sie stets freundlich und mit Respekt?
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Obey
16.02.2024 06:33registriert Januar 2016
Aus meinem persönlichen Umfeld habe ich das alles und noch viel übleres von Assistenzärztinnen & Ärzten ebenfalls gehört. Überstunden, welche einfach gestrichen werden, weil es sie „nicht geben darf“, Arbeitspläne in denen Frühschicht direkt auf Nachtschicht folgt, 16h-Tage, welche so häufig vorkommen, dass sie nicht mehr als Ausnahme bezeichnet werden können etc. Diese Menschen werden vom System komplett ausgenutzt und ich bin rückwirkend betrachtet froh, dass es bei mir nicht zum Traumberuf Arzt gereicht hat. Höchsten Respekt vor allen, welche diese Tortur durchstehen und positiv bleiben!
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Rikki-Tiki-Tavi
16.02.2024 06:28registriert April 2020
Danke für diesen Bericht. Die Probleme sind vielfältig. Nur schon die beschriebenen Arbeitsprozesse sind haarsträubend; jemand studiert doch nicht Medizin, um dann altbackene Büroarbeit in der beschriebenen Form zu verrichten; nur schon diese schwerfällige Administration könnte man relativ einfach verbessern. Alles andere dauert länger.
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