Wer am Wochenende über Nemo sprach, tat sich oft schwer damit, Nemo nicht einem Geschlecht zuzuordnen. Es fehlen die Pronomen. Für Ihre Forschung sprachen Sie mit zahlreichen nonbinären Menschen. Wie erleben sie dieses sprachliche Hindernis?
Tiziana Jäggi: Die meisten nonbinären Personen verwenden keine Pronomen - so wie Nemo. Die deutsche Sprache richtet sich stark an den beiden Kategorien Männern und Frauen aus. Anders als etwa im Englischen oder Schwedischen kennt das Deutsche kein geschlechtsneutrales Pronomen.
Doch, das sächliche Geschlecht.
Das steht in der Regel aber für Dinge oder Tiere. Bei Menschen wird es bei Verkleinerungen, Kindern oder mit negativer Konnotation verwendet. Unsere Sprache hat das binäre Geschlechtermodell fest eingeschrieben. Nonbinarität lässt sich also nicht mühelos sprachlich ausdrücken. Entsprechend ist es für die Betroffenen ein schwieriges Thema, und es müssen Lösungen her. In der Forschung sprechen wir von einer linguistischen Innovation, die nun gefordert ist.
Wie läuft eine solche ab?
Als Erstes definieren Menschen für sich Lösungen, die individuell für sie stimmen. Dadurch entsteht ein Pool von Möglichkeiten, aus denen sich dann mehrere gangbare Handhabungen herauskristallisieren. Diese etablieren sich, indem sie in Leitfäden geschrieben werden und dadurch in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext rücken. Im Deutschen befinden wir uns in der Anfangsphase. Im Französischen ist man bereits einen Schritt weiter.
Wo steht man im Französischen?
Nonbinäre Personen verwenden im Französischen bis heute verschiedene Pronomen. Eines - «iel» im Singular, «iels» im Plural - hat sich allerdings bereits so weit etabliert, dass es in der Onlineversion des französischen Standartwörterbuchs «Le Robert» aufgeführt ist.
Welche neuen Pronomen werden derzeit im deutschsprachigen Raum diskutiert?
Der Verein für geschlechtsneutrales Deutsch hat innerhalb der Community eine Umfrage gemacht. Etwa 1400 Personen vor allem aus Deutschland haben daran teilgenommen. Sie nannten als beliebteste Pronomen «dey», «hen», «em», «sier» und «en». Ich bereite derzeit eine ähnliche Erhebung für die Schweiz vor.
Bis sich ein solches Pronomen durchsetzt, dürfte es noch lange dauern. Wie kann man sich bis dahin auf nonbinäre Personen beziehen?
Die inklusive Sprache kennt zwei Strategien: die Sichtbarmachung oder die Neutralisierung des Geschlechts. Bei Ersterer werden beispielsweise Genderstern, Doppelpunkt und Gendergap verwendet, was jedoch in der Bevölkerung nicht alle gutheissen. Häufiger werden deshalb neutralisierende Begriffe genutzt. Bei Nemo haben beispielsweise viele Medienschaffende vom «Musik-» oder «Gesangstalent» geschrieben, um ein anderes Wort zum Namen zu verwenden. Einfacher ist es im Plural. Geschlechtsneutrale Partizipien wie beispielsweise Studierende schliessen auch nonbinäre Personen ein.
Die Diskussionen rund um den Genderstern zeigen, wie polarisiert die Debatten um geschlechtsneutrale Sprache geführt werden. Im Schwedischen hat sich hingegen das neu geschaffene, geschlechtsneutrale Pronomen «hen» durchgesetzt. Wie gelang das?
Feministische Linguistinnen haben in Schweden das Pronomen «hen» bereits in den 1960er-Jahren als geschlechtsneutrales Pronomen diskutiert. Sie haben sich dabei an der finnischen Sprache orientiert, die kein grammatisches Geschlecht kennt und einzig über das geschlechtsneutrale Personalpronomen «hän» verfügt. Die Diskussion in Schweden war also nicht neu, als sie nach der Jahrtausendwende von LGBTQ-Kreisen aufgegriffen wurde. Als «hen» 2012 erstmals in einem Kinderbuch erschien, löste das jedoch eine grössere Kontroverse aus.
Und heute?
Vor allem im Sprachgebrauch junger Menschen hat sich «hen» etabliert. Das deutet darauf hin, dass das Pronomen im Schwedischen bleiben wird. Es gibt allerdings zwei Verwendungsarten - geschlechtsneutral, wenn man das Geschlecht nicht kennt oder wenn dieses keine Rolle spielt - oder spezifisch nonbinär. Erstere Verwendungsweise ist breit akzeptiert und löst kaum mehr Kontroversen aus. Anders ist es, wenn das Pronomen explizit für nonbinäre Personen genutzt wird.
Weshalb tun wir uns schwer damit, sprachliche Gepflogenheiten zu ändern?
Dass die Sprache inklusiver werden soll, ist nicht neu. Bereits in den 1970er-Jahren gab es entsprechende Vorstösse. Damals ging es darum, Frauen sichtbarer zu machen. Die Forschung zeigt, dass die damaligen Argumente gegen eine inklusive Sprache den heutigen sehr ähneln. Gewisse Kritik bezieht sich auf linguistische Aspekte, bei denen es darum geht, den Status quo der Sprache beizubehalten. Andere bemängeln, dass Sprache verglichen mit anderen Ungerechtigkeiten aufgrund des Geschlechts irrelevant sei. Dritte bemängeln die Sonderzeichen, die den Lesefluss stören. Erste Studien dazu zeigen, dass dies in gewissen Situationen zutrifft, die Effekte sind aber klein. Vermutlich gewöhnen sich die Menschen mit der Zeit an die neue Schreibweise. Neu in der aktuellen Debatte ist hingegen, dass sich gewisse Argumente direkt gegen nonbinäre Menschen richten. Es wird versucht, über die Sprache die binäre Geschlechterordnung zu verteidigen.
Gibt es eine Sprache, die per se nonbinär funktioniert?
Ja, ich würde diese Sprachen aber eher als geschlechtsneutral oder geschlechtslos bezeichnen. Die finnische, aber auch die türkische Sprache machen keine Geschlechtsunterscheidung bei den Pronomen. Auch das Englische oder das Schwedische kennt kein grammatikalisches Geschlecht. Die beiden Sprachen unterscheiden einzig zwischen weiblichen und männlichen Pronomen - also «she» und «he» respektive «hon »und «han». Das vereinfacht vieles.