Eigentlich hat Mursal Ahmadzai das Paradies gefunden. Die 28-Jährige steht vor der Asylunterkunft Sonneblick in Walzenhausen, umgeben von grünen Hügeln des Appenzellerlandes. Seit neun Monaten lebt sie hier. Sie ist in Sicherheit. Eine Mordrate gibt es in Appenzell Ausserrhoden nicht. Im vergangenen Jahr wurde hier kein Tötungsdelikt angezeigt. Und das Frauenstimmrecht gilt immerhin seit 1989. Das staubige Kabul, ihre Heimat, wo ihr Leben in Gefahr war, ist 6000 Kilometer entfernt.
Und trotzdem fehlt ihr hier eine Perspektive. Das Staatssekretariat für Migration hat ihren Asylantrag abgelehnt. Sie muss zurück nach Afghanistan, sobald die Situation dort nicht mehr gefährlich ist. Sie hat nur eine F-Bewilligung: «vorläufig aufgenommen».
Mursal Ahmadzai hat sich ihr neues Leben in der Schweiz anders vorgestellt. Sie hat gedacht, dass ihre Probleme vorbei seien, wenn sie die Flucht überlebt hat. Dass man sie als Frau aus Afghanistan, die für das US-Militär gearbeitet hat, hier mit offenen Armen empfangen würde. Dass sie mit ihrer Ausbildung und ihrer Berufserfahrung ein neues Geschäft aufbauen könnte.
Stattdessen fühlt sie sich hier zum Nichtstun verdammt. Sie sagt:
Sie ist in einer wohlhabenden Familie in Kabul aufgewachsen und hatte immer ein Ziel: Sie wollte Geschäftsfrau werden. An der Universität von Kabul studierte sie drei Jahre Wirtschaft, später absolvierte sie Weiterbildungen in Marketing und Design.
Ihre erste Stelle hatte sie bei einer Internetfirma. Ihre Aufgabe war, die Camps des US-Militärs in Kabul mit Onlineverbindungen zu versorgen. War zum Beispiel die Netzabdeckung zu schwach, klärte sie ab, ob ihre Firma in der Nähe eine Antenne aufstellen kann. Sie hatte einen Badge, mit dem sie sich in den Camps der Nato-Streitkräfte frei bewegen konnte.
Der Zugang eröffnete ihr eine neue Welt. Sie gründete eine Firma und entwarf Schmuck, den sie und sechs Angestellte mit Silber und afghanischen Edelsteinen herstellten. Sie betrieb ein Atelier in Kabul und zwei Läden in der Militärbasis New Kabul Compound. Hier war sie bei der Kundschaft. Die lokale Bevölkerung konnte sich die Ware kaum leisten.
Das Startkapital für ihre Firma lieh ihr ihre Familie. Maschinen erhielt sie von einem US-Projekt, das Frauen der afghanischen Wirtschaft förderte.
Das Geschäft kam rasch in Gang. Doch der Erfolg hatte eine Schattenseite. Die Bedrohungen nahmen zu. Weil sie in den Militärcamps ein- und ausging, stand sie im Visier der Taliban. Sie erhielt anonyme Anrufe, Drohbriefe und Männer kamen in ihrem Büro vorbei und verlangten, dass sie mit ihnen zusammenarbeiten müsse.
In dieser Zeit begannen die Friedensgespräche zwischen den Taliban, den Amerikanern und der afghanischen Regierung. In ihrer Befragung durch das Staatssekretariat für Migration sagte Mursal Ahmadzai:
Mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern floh sie Ende 2019 nach Iran. Sie hatte ein Geschäftsvisum und überquerte damit die erste Grenze legal. Doch ihre Schwester wurde krank, weshalb ihre Familie in Iran blieb. Mursal Ahmadzai machte sich deshalb alleine auf eine siebenmonatige Reise. Schleppern bezahlte sie dafür 15'000 Euro. Diese führten sie bis nach Griechenland. «Es war gefährlich», sagt sie. Die Grenzen hätten sie zu Fuss überquert, teilweise über hohe Berge. In Griechenland habe sie sich für 7000 Euro einen gefälschten Pass gekauft, mit dem sie in die Schweiz geflogen sei.
Es ist sehr selten, dass Frauen alleine von Afghanistan in die Schweiz fliehen. Generell ist die Mehrheit der Flüchtlinge, die in der Schweiz ankommen, männlich. Die gefährliche Reise schaffen nur die stärksten und fittesten. Junge Männer sind im Vorteil, Frauen im Nachteil. Sie sind auf der Flucht häufig sexueller Gewalt ausgeliefert.
Aus Afghanistan sind in den vergangenen Jahren besonders viele Männer in die Schweiz gereist. Im Asylsystem befinden sich aktuell 8500 Afghanen und nur 3000 Afghaninnen. Weitere 8500 Menschen aus Afghanistan leben hier mit einer Aufenthalts- oder einer Niederlassungsbewilligung. Sie haben es geschafft. Sie haben das Papier für eine gesicherte Zukunft. Doch davon sind nur 39 Prozent Frauen. Es ist die tiefeste Frauenquote im Vergleich der zehn Nationen, aus denen die Schweiz am meisten Flüchtlinge aufnimmt.
Mursal Ahmadzai dachte, dass sie als Frau besonders gute Chancen auf Asyl hätte, wenn sie mal hier ist. Doch das ist nicht so. Die grosse Mehrheit (84 Prozent) aller Afghaninnen und Afghanen, die in der Schweiz einen Asylantrag stellt, erhält eine Absage, aber eine F-Bewilligung. Für diese vorläufige Aufnahme spielt es keine Rolle, ob die Lage im Heimatland schlecht oder sehr schlecht ist wie aktuell in Afghanistan.
Sollte jetzt nicht jede Frau aus Afghanistan, die es bis hier geschafft hat, Asyl erhalten? Die Antwort steht in der Genfer Flüchtlingskonvention. Sie enthält eine enge Definition des Flüchtlingsbegriffs.
Stammt eine Person zum Beispiel aus einem Dorf, das zerstört wurde, gilt sie damit noch nicht als Flüchtling. Sie muss nachweisen können, dass sie persönlich verfolgt ist wegen «ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung». Eine allgemeine Bedrohungssituation gegenüber Frauen genügt nicht. Eine Afghanin muss nachweisen können, dass es die Taliban auf sie persönlich abgesehen haben.
Dieser Nachweis ist Mursal Ahmadzai gegenüber dem Staatssekretariat für Migration nicht gelungen. Es sieht in ihrer Geschichte keine spezifische Verfolgung, die ihr persönlich gilt. Sie hat Beschwerde erhoben. Der Fall ist beim Bundesverwaltungsgericht hängig.
Eine Recherche in der Datenbank des Gerichts zeigt, wie schwierig es für Frauen aus Afghanistan ist, Asyl zu erhalten. Zwei Beispiele illustrieren das.
Eine Hebamme erzählt folgende Geschichte. Sie arbeitete in einem Krankenhaus von Kabul und erfuhr, dass ein Pfleger eine Kollegin vergewaltigte. Sie meldete dies der Spitaldirektion, worauf der Mann entlassen wurde. Darauf sei sie beschimpft und mit dem Tod bedroht worden. Um sich zu verstecken, habe sie eine Burka getragen. Ihr Mann sei schon lange gestorben.
Witwen seien in Afghanistan geächtet und unterdrückt. Ausserhalb von Kabul gebe es deshalb den «Witwenhügel Sanabad», wo Frauen mit ihren Kindern leben würden, um sich gegenseitig zu schützen. Die Geschichte überzeugt das Gericht nicht. Die Frau habe nicht nachweisen können, dass sie persönlich verfolgt wird. Ihre Erzählung habe Widersprüche enthalten. Ihre Aussagen werden analysiert wie in einem Strafverfahren. Die Frau erhält kein Asyl, aber eine F-Bewilligung.
Eine Frauenärztin berichtet, in ihrer Praxis sei ein Mann mit einer Kalaschnikow aufgetaucht. Er habe verlangt, dass sie eine Abtreibung bei seiner Schwester vornehme. Diese hatte ein uneheliches Kind in ihrem Bauch, das sie aber behalten wollte. Die Ärztin weigerte sich.
Der Mann hatte Beziehungen zu den Taliban. Später sei sie auf dem Heimweg von zwei vermummten Personen auf einem Motorrad angeschossen worden. Das Staatssekretariat für Migration lehnte das Asylgesuch ab, doch das Gericht anerkannte sie als Flüchtling an.
Mursal Ahmadzai hofft auf diese Wende in ihrem Fall. Denn mit einer F-Bewilligung könne sie hier ihr Geschäft nicht wieder aufbauen. Dafür müsste sie reisen können. Das ist mit ihrem Status in den ersten drei Jahren nicht erlaubt. Sie sagt: