Sie hätten olympisches Goldmedaillen-Niveau erreicht: Die gymnastischen Verrenkungen, mit denen Firmen ihre Steuern klein rechnen. So beschreibt das liberale Wirtschaftsblatt «The Economist» die Zustände in der Firmenbesteuerung. Armeen von Beratern würden dabei helfen, Gewinne in Steueroasen zu verschieben. So entgehen den Staaten jährlich Unsummen, geschätzte 240 Milliarden Dollar. Schaut man auf die Steuerrechnungen der amerikanischen Multis, ergibt sich ein surreales Bild. Angeblich machen sie fast zwei Drittel ihrer Auslandprofite in Steueroasen. Dabei arbeiten dort nur 5 Prozent ihrer Angestellten. Sie machen mehr Gewinn auf Bermuda als in China, und mehr in der Schweiz als in Deutschland.
Es hat sich mit der Zeit meilenweit entfernt von der Idee, nach welcher es vor einem Jahrhundert erbaut wurde. Damals wollte man vermeiden, dass Multis auf denselben Gewinn an zwei Orten die gleiche Steuer zahlen. Sie sollten dort zahlen, wo ihre Gewinne entstanden – und dort, wo ihr Hauptsitz war. Doch mit diesen Regeln begannen die Multis alsbald zu spielen, gut bezahlte Berater halfen dabei. Der Techkonzern Apple oder die Schuhfirma Nike nahmen etwa Patente oder Markenrechte und schoben diese in Steueroasen hinein, zum Beispiel nach Irland. Steuerlich gesehen war so die Welt ein andere. Apple verkaufte seine iPhones zwar in den USA, Nike seine Sneakers in Frankreich. Aber das war egal. Einen Grossteil ihrer Steuern zahlten sie in Irland. Dort waren ja die Markenrechte und Patente verortet, dank derer sie ihre Produkte verkaufen konnten.
Biden könnte bald sein erster Big Point gelingen in seinem Kampf gegen Steueroasen, zu denen er bekanntlich Bermuda und die Schweiz zählt. Die G7 stehen kurz davor, sich auf eine Mindeststeuer für Firmen zu einigen. Zu den G7 gehören die sieben grössten westlichen Industrienationen. Ihre Finanzminister treffen sich nächste Woche in London. Und in britischen Medien sickert durch, was dann voraussichtlich bekannt wird. Es wäre eine globale Mindeststeuer von 15 Prozent. Das allein wäre ein grosser Wurf für Biden. Viele Länder besteuern die Multis heute viel geringer, auch die Schweiz. Mit einer Mindeststeuer würde es sich weit weniger lohnen, weiterzumachen mit dem Versteckspiel mit den nationalen Steuerbehörden. Und Biden käme mit einem G7-Deal dem nächsten Big Point näher: einer Einigung später im Sommer in der OECD, dem Verein der Industriestaaten. Das wäre dann endgültig die grösste Umwälzung in der Firmenbesteuerung seit 100 Jahren.
Im Sommer kommen die OECD-Länder zusammen. Sage und schreibe 139 sind es, die sich auf ein neues Steuerregime einigen sollen – ein schier unmögliches Vorhaben. Damit es gelingen kann, will Biden vorher Einigkeit in der G7. Eine globale Mindeststeuer wäre indessen nur eine von zwei Riesenreformen, auf die Biden abzielt. Die zweite Reform will das Verschieben von Gewinnen erschweren. Gewinne würde nicht länger dort besteuert, wo Patente oder Rechte auf Marken oder Algorithmen verortet sind. Man würde schauen, in welchen Ländern die Multis ihre Schuhe verkaufen oder wo sie ihre Mitarbeiter haben. Apple würde weniger Steuern in Irland abliefern, mehr in den USA oder Indien.
Wenn um Steuergelder gestritten wird, geht es bald einmal um den guten Ruf. Das zeigt die Arbeit des Tax Justice Network. Diese Bürgerrechtsorganisation zählt die Schweiz mit vier anderen Ländern zu einer «Achse der Steuerhinterziehung». Diese Achse sei verantwortlich für über die Hälfte der Steuern, die globale Multis jedes Jahr hinterziehen würden. Das Schlagwort von der Achse hat das Netzwerk der Achse des Bösen nachempfunden, welche der damalige US-Präsident Georg W. Bush einst prägte. Bush beschrieb damit Länder, die angeblich Terroristen unterstützen.
Könnten die Multis künftig ihre Steuern nicht mehr klein rechnen, würde das die Schweiz einiges kosten. Laut einer Studie des Tax Justice Network verursacht sie dem Rest der Welt heute einen Steuerverlust von 11 Milliarden Dollar. Um diese Schätzung zu erhalten, hat das Netzwerk neue Daten ausgewertet, welche die OECD erstmals zur Verfügung gestellt hat. Land für Land wurde berechnet: Da verbuchen Multis die Gewinne; dort verkaufen sie ihre Produkte. Daraus leitete das Netzwerk ab: So viel Steuergeld entziehen etwa Irland oder die Schweiz allen anderen Ländern. Damit nicht genug. Dieser Steuerbetrag wird veranschaulicht. Er wird umgerechnet auf das durchschnittliche Gehalt von Krankenhelfern. Laut Tax Justice Network kann die Welt über eine Million weniger Krankenpfleger anstellen, weil die Schweiz globalen Multis das Steuersparen erleichtert. Auch dieses Beispiel zeigt: Im Kampf um Steuergeld wird die Moralkeule geschwungen.
Wann immer ein Demokrat ins Weisse Haus einzieht, kracht es. Unter Bill Clinton wurden ihre Banken dazu gezwungen, Opfer des Nationalsozialismus zu entschädigen. Unter Barack Obama fiel das Bankgeheimnis, die Credit Suisse gestand kriminelle Aktivitäten ein. Nun Biden. Vor dem Kongress sagte er: «Viele Firmen hinterziehen Steuern in Steueroasen, und zwar in der Schweiz, auf den Bermudas und den Cayman Islands.» Biden bringt eine neue Art des Populismus mit ins Präsidentenamt. Kürzlich sagte er, die Multis täten nichts Vernünftiges mit ihren Gewinnen. Sie hätten vor allem eigene Aktien zurückgekauft. So hätten sie deren Wert nach oben getrieben und damit die Boni ihrer Chefs. Diese würden heute 370 Mal mehr verdienen als ein mittlerer Angestellter. Also will Biden die Multis stärker besteuern und das Geld in die verlotterte Infrastruktur stecken.
Man habe Biden eine Rede geschrieben, er habe die abgelesen, aber die Fakten seien ja völlig überholt. So tat Bundesrat Ueli Maurer die Kritik ab, in gewohnt volksnaher Weise. «Ich glaube, solche Dinge passieren. Präsident Biden ist neu.» Als Maurer herausgefordert wurde, wie es denn komme, dass die Schweiz in Hollywoodfilmen stets als Geldversteck herhalten müsse, da konterte der SVP-Magistrat: Die Schweiz erfülle heute sämtliche Anforderungen. «Das müsste endlich akzeptiert und auch respektiert werden.»
Das überzeugt jene Politiker nicht, die auf eine höhere Besteuerung von Multis drängen. Etwa Paul Tang. Der niederländische Sozialdemokrat ist Vorsitzender im Unterausschuss für Steuerfragen im Europäischen Parlament. Um eine Reaktion auf Maurers Aussagen gebeten, sagt er scherzhaft: Maurer habe wohl Kellyanne Conway angestellt, um alternative Fakten zu produzieren. Die Beraterin des früheren US-Präsidenten Donald Trump prägte einst den Begriff der «alternative facts». «Schwerwiegender ist, dass der Bundesrat leugnet, welch zentrale Rolle die Schweiz in der Branche der Steuervermeidung hat», so Tang. Dass sie diese Rolle hat, würden diverse Indikatoren zeigen, die auf harten Fakten basieren. Und zudem könne man die Regeln einhalten und gleichzeitig ein Steuerparadies sein. «Darum müssen die Regeln geändert werden.» (aargauerzeitung.ch)