Karin Keller-Sutter, täglich kommen rund 1000 Geflüchtete aus der Ukraine in die Schweiz. Wenn es so bleibt, könnten bis Ende Jahr 300'000 Menschen Schutz suchen. Schaffen wir das?
Karin Keller-Sutter: Es ist schwierig, eine Prognose zu machen. Die Flüchtlingsbewegungen hängen vom Kriegsverlauf ab. Momentan haben sie sich ein wenig stabilisiert. Dehnen sich die Kampfhandlungen gegen den Westen der Ukraine aus, rechnen wir mit weiteren starken Fluchtbewegungen. Es ist nicht vorstellbar, Frauen und Kinder an der Grenze abzuweisen. Bislang haben 28'000 Menschen in der Schweiz Schutz gesucht.
Könnte die Schweiz ohne die Hilfe von Gastfamilien alle Geflüchteten unterbringen?
Ich bin froh über diese Solidarität und bedanke mich dafür. 45 Prozent der Geflüchteten leben aktuell bei Gastfamilien, viele davon bei Verwandten und Freunden. Es kann sein, dass einige Gastfamilien die Geflüchteten länger unterbringen als während einer Mindestdauer von 3 Monaten, welche die Flüchtlingshilfe verlangt. Wenn der Krieg länger dauert, braucht es Alternativen. Ich habe darum Thomas Würgler, den ehemaligen Kommandanten der Kantonspolizei Zürich, eingesetzt und beauftragt, Szenarien zu erarbeiten, wie man diese Herausforderung bei der Unterbringung in ein paar Monaten meistert.
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Wird auch künftig jede geflüchtete Person aus der Ukraine ein Dach über dem Kopf haben?
Das bleibt das Ziel von Bund und Kantonen. Das ist übrigens im europäischen Ausland nicht überall der Fall. Wir müssen uns vor Augen führen: Europa sieht sich mit der grössten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Innert 5 Wochen haben mehr als 4.5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Heimat verlassen. Zum Vergleich: 2015 haben 1 Million syrische Flüchtlinge in Europa ein Asylgesuch gestellt – aber verteilt in einem Jahr.
Der Schutzstatus S ist auf Rückkehr ausgerichtet. Ist das angesichts der zerbombten Städte in der Ukraine realistisch?
Ich kann sagen, was ich in direkten Gesprächen mit den Menschen höre. Zu 75 Prozent sind die erwachsenen Geflüchteten Frauen, viele sind mit ihren Kindern geflohen. Diese Frauen haben ihre Männer, Söhne, Brüder in der Ukraine zurückgelassen. Sie wollen zurück. Meine osteuropäischen Ministerkollegen erzählen dasselbe. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob das möglich sein wird oder ob das Land so stark zerstört ist, dass die Geflüchteten länger in der Schweiz bleiben. Ich gehe davon aus, dass die Frauen zu ihren Männern zurückkehren wollen. Wann das möglich ist, bleibt eine offene Frage.
Die Zahl der ordentlichen Asylgesuche steigt. Kann das Staatssekretariat für Migration (SEM) dieses Arbeitsvolumen bewältigen?
In den letzten Wochen hatten wir eine schwierige Situation. Rund 150 Personen im SEM wurden vom Normalbetrieb abgezogen für die Registrierung in den Bundesasylzentren. Wir haben zudem in der Bundesverwaltung einen Aufruf gemacht und aus anderen Departementen über 120 Personen erhalten, die in den kommenden zwei Monaten Schutzsuchende registrieren werden. Weiteres Personal haben wir temporär eingestellt. Aber wir werden die Ressourcen aufstocken müssen. Mit ist ein wichtiges Anliegen, dass das SEM den Grundauftrag, die Durchführung von Asylverfahren, erfüllen kann. Wir haben gesetzliche Fristen. Auch die Rückführung von abgewiesenen Asylsuchenden muss weiterhin stattfinden. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Lage normalisiert.
War die – sagen wir mal etwas vorsichtige – Wortwahl des Aussendepartements und von Bundespräsident Ignazio Cassis auf die mutmasslichen Kriegsverbrechen von Butscha angebracht?
Ich spreche auch von mutmasslichen Kriegsverbrechen. Es gibt keine Differenz. Ich habe in einem Interview zum Ausdruck gebracht, dass es klare Hinweise auf Kriegsverbrechen gibt, die jetzt selbstverständlich abgeklärt werden müssen. Es ist sehr wichtig, dass internationale Ermittlungsteams vor Ort arbeiten können und so schnell wie mögliche Beweise erheben, damit diese bei einem allfälligen Kriegsverbrechertribunal verwertet werden können.
Geben die in die Schweiz Geflüchteten Hinweise auf Kriegsverbrechen?
Sie werden in den Bundesasylzentren darauf aufmerksam gemacht, dass sie ein Formular ausfüllen und Hinweise auf Kriegsverbrechen angeben können. Sie werden auch nach Film- und Tonaufnahmen gefragt. Diese Möglichkeit ist sehr wichtig. Je länger der Krieg dauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass Menschen zu uns kommen, die Zeugen von Gräueltaten wurden.
Die Mafia könnte die Kriegswirren ausnutzen. Was tut die Schweiz?
Nicht nur die Mafia, sondern die organisierte Kriminalität generell könnte profitieren. Ich denke dabei an Menschen-, Drogen- oder auch Waffenhandel. Wir haben diese Fragen in der Schweiz und auch auf europäischer Ebene auf dem Radar. Insbesondere bei Kindern besteht die Gefahr von Menschenhandel. Hier ist erhöhte Wachsamkeit angezeigt. Verschiedene Akteure, darunter auch die europäische Grenzschutzbehörde Frontex, sensibilisieren die Schengen-Länder in täglichen Lagebildern auf diese Gefahr.
Die Schweiz ist ein Rückzugsort für die Mafia geworden. Der Bundesrat hat eingeräumt, dass er das Problem unterschätzt hat. Wie reagieren Sie als zuständige Justizministerin?
Für das Justizdepartement ist die Mafiabekämpfung ein Schwerpunktthema dieser Legislatur. Wenn der Bundesrat gesagt hat, er habe die Problematik unterschätzt, hat das vielleicht damit zu tun, dass die Mafia hierzulande – anders als in Italien – nicht offensichtliche Verbrechen auf der Strasse verübt. Vielmehr dient die Schweiz als Logistikbasis. Die Mafiaangehörigen wollen hier keine Aufmerksamkeit erregen. Das macht ihre Bekämpfung schwieriger.
Was unternehmen Sie?
Ich habe dem Bundesamt für Polizei (Fedpol) den Auftrag erteilt, zu prüfen, welche Bedürfnisse bei den kantonalen Polizeikorps und den Staatsanwälten bestehen und wo allfällige Lücken zu schliessen sind. Ich habe auch einen Rechtsvergleich in Auftrag gegeben, um zu analysieren, wie andere Länder gegen die Mafia vorgehen und welche gesetzlichen Unterschiede es gibt. Die Schweizer Gesetzgebung ist zum Beispiel nicht direkt vergleichbar mit der italienischen. Zudem läuft vieles auch über die Sensibilisierung.
Das heisst?
Nehmen Sie die Handelsregister- oder Grundbuchämter. Die Bundespolizei hat eine Sensibilisierungskampagne gestartet. Sehr oft wird gewaschenes Geld in Immobilien investiert. Es ist aber nicht einfach nichts passiert bei der Mafiabekämpfung. Die Bundeskriminalpolizei betreibt im Kanton Tessin seit zwanzig Jahren eine Aussenstelle zur Mafiabekämpfung. Aber es bleibt eine grosse Herausforderung, die Strukturen der Mafia in der Schweiz aufzudecken – weil sie versucht, möglichst unsichtbar zu bleiben.
Wie äussert sich diese Unsichtbarkeit?
Ich mache ein Beispiel. Das Fedpol hat einen Mafiaangehörigen des Landes verwiesen, der als Saisonnier vor Jahrzehnten in die Schweiz kam. Wir sprechen also über Personen, die völlig unauffällig im Land gelebt haben. Ich begrüsse es sehr, dass jetzt die Bundespolizei, die kantonalen Polizeien und die Bundesanwaltschaft gemeinsam Anstrengungen unternehmen im Kampf gegen die Mafia. Der neue Bundesanwalt sieht in der Mafiabekämpfung einen Schwerpunkt. Das unterstütze ich. Die Schweiz soll weder Ruheraum sein, noch soll die Schweizer Wirtschaft durch mafiöse Strukturen unterwandert werden.
Sollte man Vermögen beschlagnahmen, sobald ein Verdacht besteht, dass jemand Mitglied der Mafia ist?
Sie nennen ein Beispiel. Das Ziel meines Auftrags ans Fedpol lautet aber: Ich möchte verschiedene Rechtsordnungen vergleichen und ein Gesamtbild erhalten. Ich will wissen, wo gesetzgeberische und organisatorische Lücken bestehen und auf welcher Ebene diese behoben werden müssen.
Steuerbehörden, Handelsregister oder Grundbuch: Zwischen den einzelnen Ämtern klemmt es beim Datenaustausch. Das erschwert die Mafiabekämpfung, einverstanden?
Wir haben diese Problematik auf dem Radar. Hier geht es um die von mir angesprochene Sensibilisierung. Viel Geld fliesst in Immobilien oder Grundstücke. In den Kantonen muss man sich bewusst sein, dass solche Gelder von kriminellen Organisationen stammen und gewaschen sein könnten. Wir wollen verhindern, dass der Immobilienmarkt durch Geld aus kriminellen Aktivitäten unterwandert wird. (aargauerzeitung.ch)
2. am Anfang wollen alle zurück, die ganze erste Generation (zB Afghanen, Syrer etc.) will zurück, bleibt aber trotzdem hier (weil Lebensstandard). Die Frauen mit Status S haben das Recht auf Familiennachzug, werden ihre Männer also hierherholen. Man darg davon ausgehen, dass 80% hier bleiben und sollte sich darauf gefasst machen.