Marco G.*, Italiener im Aargau, erzählt: Der Sohn des Bosses habe in Kalabrien ein Resort gebaut und ihn gefragt, ob er 300000 Euro investieren wolle. Aber das sei ihm zu gefährlich. Er wolle nicht, dass die «Finanza» auf ihn aufmerksam werde. Wenn die «Finanza», also die italienische Finanzpolizei, einmal hinschaue, werde man sie nicht mehr los. In Italien müsse man immer zeigen, woher man alles habe. Man brauche einen Anwalt, um alles zu beweisen. Sonst nehme der Staat einem alles weg.
So wird Marco G. von einem Undercover-Agenten der Schweizer Bundespolizei (Fedpol) zitiert. Der Vorgang findet sich in Akten zur Anti-Mafia-Operation «Imponimento», die italienische und Schweizer Ermittler führten.
Mafiosi mögen die Schweiz. Eine ähnlich scharfe Konfiszierungspraxis wie in Italien gibt es hier nicht. Lange Haft drohte bisher kaum. Mit der Folge auch, dass die Gangster schmutziges Geld mit Vorliebe hier waschen und investieren.
Einer, der dem schon lange einen Riegel schieben will, ist Marco Romano, Tessiner Nationalrat der Mitte-Partei. 2012 und 2014 forderte er in Vorstössen, die Konfiszierung von Mafia-Besitz müsse erleichtert werden. Zur Abschreckung, zum Schutz des Finanzplatzes. Der Bundesrat winkte ab: Die Gesetze «erlauben eine effiziente Bekämpfung der Organisierten Kriminalität».
Jetzt, im Jahr 2021, kommen plötzlich andere Töne aus Bundesbern. «Die Präsenz und die Aktivitäten von Mafiaorganisationen in der Schweiz sind in den letzten Jahrzehnten unterschätzt worden», gestand die Regierung im September in der Antwort auf einen weiteren Vorstoss von Romano. «Mit ausländischen Partnern ausgetauschte Informationen» hätten zu dieser Erkenntnis geführt, so der Bundesrat.
Der Regierung in Bern geht ein Licht auf – langsam. Marco Romano sagt: «In der Deutschschweiz und in der Romandie hat man leider noch zu wenig verstanden, dass die Mafia längst unter uns ist und wir mit aller Kraft dagegen vorgehen müssen, wenn wir nicht ein böses Erwachen erleben wollen. Bei jedem Gramm Drogen, das in der Schweiz verkauft wird, hat die ‘Ndrangheta die Finger im Spiel. Danach wäscht sie hier die Gewinne und investiert sie, unterwandert unser Land.»
Und die Mafia, sagt Romano, morde bereits vor unserer Haustür. «Eben erst wurde im Raum Mailand auf offener Strasse und kurz vor Mittag ein lokaler Mafiaboss erschossen. Der Mann war krank, hätte nicht mehr lange zu leben gehabt, aber die Mafia wollte Stärke beweisen. Praktisch vor unserer Haustür!»
Mafia-Land Schweiz? Noch 2014 zeigte sich der damalige Bundesanwalt Michael Lauber verstimmt darüber, dass Italien offensiv über den gemeinsamen Schlag gegen die auch in Frauenfeld (TG) aktive ‘Ndrangheta-Zelle informiert hatte. «Die Schweiz ist kein mafiöses Land», versicherte Lauber. Sein Staatsanwalt Carlo Bulletti sagte: Die Schweiz werde als «Ruhepol» benutzt, die Verdächtigen würden sich hüten, in der Schweiz kriminell zu werden.
Vorwärts macht vor allem der Grenzkanton zu Italien. Im Frühsommer 2021 wurde das «Observatorium für Organisierte Kriminalität» eröffnet, eine Zusammenarbeit des Tessiner Fernsehens RSI mit der Universität Tessin. An der Eröffnungsveranstaltung trat auch Nicoletta della Valle auf, Chefin des Bundesamts für Polizei (Fedpol). «Wir haben ein echtes Problem, das wir nur mit mehr nationaler und internationaler Zusammenarbeit lösen können», sagt sie. Die Mafia sei in der Schweiz bisher unterschätzt worden: «In den letzten 50 Jahren gab es immer eine Diskrepanz zwischen der realen Situation und unserem Wissensstand.»
Heute wisse man, dass es schon in den Siebzigerjahren eine verästelte Struktur mit Zellen der besonders gefährlichen ‘Nrangheta gab. «Aber unser Wissensstand darüber war damals gleich null. Man konnte sich nicht vorstellen, dass eine solche Struktur in der Schweiz existierte.»
Die Mafia konnte bei uns Wurzeln schlagen und sich in die Gesellschaft integrieren. Der offenbar einzige Staatsanwalt des Bundes, der für Mafia-Bekämpfung abgestellt ist, Sergio Mastroianni, sagte am Tessiner Anlass: «Das Phänomen ist in der Deutschschweiz besonders verbreitet.» Würde man eine Mafia-Karte zeichnen, wäre das Tessin rot, die Deutschschweiz «tiefrot».
Die Operation Imponimento gegen den Anello-Fruci-Clan lässt erahnen, wie breit die Mafia in der Deutschschweiz verwurzelt ist. Die Pizzeria Bella Vista in Muri (AG) war offenbar jahrelang eine Art Schaltzentrale. Mit dem Wirt Marco G. war der halbe Kanton auf Facebook befreundet. Die Ferraris erklärte man sich mit gutem Geschäftsgang. Die Aargauer Kantonspolizei bekam anscheinend nichts mit, obwohl am Posten vorbeifahren muss, wer zum Restaurant will.
Der hartnäckige Tessiner Romano fordert: «Schluss mit der Naivität! Ich erwarte vom Bund und den Kantonen jetzt endlich eine Offensive zur Bekämpfung der Mafia.» Alle Behörden müssten zusammenarbeiten und ihre Daten austauschen, denn die Aktivitäten der Mafia hinterliessen ja durchaus Spuren: bei Handelsregistern, Steuerbehörden, Grundbuchämtern zum Beispiel.
Romano: «In Steuerdossiers sieht man, wenn Millionen bewegt werden. Wenn jemand innert Monaten mehrere Unternehmen mit je einer Million Franken Kapital im Handelsregister anmeldet, müssen doch sämtliche Alarmglocken läuten. Es müssen viel mehr solche Gelder konfisziert werden. Wir kennen ja die Branchen, die besonders anfällig sind: etwa Gastronomie, Baubranche.»
Taten fordert auch Rosa Maria Cappa, Tessiner Anwältin. In einem Beitrag auf Swissinfo kritisierte sie soeben den halbherzigen Kampf der Schweiz gegen die Mafia. Falsch sei der Ermittlungsansatz der Schweiz. Seit Giovanni Falcone habe die Schweiz meist Rechtshilfe für Italien geleistet, aber kaum eigene Untersuchungen durchgeführt. Sie bemängelte, dass Mafiavermögen im Vergleich zu Italien nur schwer eingezogen werden kann. Dabei ist, wie auch Bundesstaatsanwalt Mastroianni am Tessiner Anlass im Mai betonte, die Beschlagnahmung ein wichtiges Instrument. «Mit der Konfiszierung tun wir der Mafia wirklich weh», so Mastroianni.
Immerhin: Seit Juli 2021 ist eine verschärfte Strafnorm gegen kriminelle Organisationen in Kraft. Bis zu 20 Jahre Haft droht Personen, die einen bestimmenden Einfluss in der Organisation ausüben. Bisher lag die Höchststrafe bei fünf Jahren.
Aber die Schweiz hinkt mit ihren Gesetzen immer noch hinterher. Hoffnung liegt unter anderem auf Bundesanwalt Stefan Blättler, ab nächstem Januar im Amt. Er hat die Bekämpfung der Mafia vor seiner Wahl zur Priorität erklärt. Gegenüber dieser Zeitung sagte er, er werde wo nötig auch Vorschläge einbringen, um das gesetzliche Instrumentarium im Kampf gegen die Mafia zu verstärken. Eine seiner ersten Dienstreisen werde ihn, so sein Plan, nach Rom führen.
Der am Anfang zitierte Marco G. ist einer der mehr als 70 Männer, die im letzten Sommer bei der Operation Imponimento wegen Mafia-Verdachts verhaftet wurden. Seine Häuser in Italien wurden konfisziert, seine Konten auch. Der Gerichtsprozess läuft in Kalabrien. Es gilt die Unschuldsvermutung. (saw/ch media)
*Name der Redaktion bekannt.
Es ist leider nun mal Fakt, dass die Schweiz für ebensolche Aktionen als Umschlagplatz verwendet wird. Vielleicht müsste Carlo Bullettinis Aussage anders interpretiert werden. Die Schweiz ist der Ruhepol der Mafia, da die unterschiedlichen Organisationen sich dazu entschieden haben, sich in der Schweiz nicht zu bekämpfen. So können sie ihre andere Geschäfte effizient abwickeln, darunter fällt primär die Geldwäscherei.