Hals über Kopf mussten die Mitarbeitenden vor vier Jahren das Schweizer Büro in Afghanistans Hauptstadt Kabul räumen. Die Machtübernahme der Taliban zwang sie zur Flucht in die Schweiz.
Seit wenigen Monaten ist die Schweiz nun wieder in Afghanistan präsent als eines der ersten europäischen Länder. Geleitet wird das neue humanitäre Büro in Kabul von Eric Marclay, der vor seiner Karriere beim Bund 25 Jahre fürs Internationale Komitee des Roten Kreuzes gearbeitet hat. Derzeit befindet er sich in der Schweiz.
Herr Marclay, was war die grösste Herausforderung bei der Rückkehr nach Afghanistan?
Uns beschäftigten vor allem logistische Fragen. Unser Büro war nicht beschädigt, aber es ging darum, es wieder einzurichten, die Infrastruktur instand zu setzen, zudem mussten wir uns um die Sicherheit und die Unterbringung der Mitarbeitenden kümmern. In unserem Büro arbeiten fünf Schweizer sowie zehn afghanische Mitarbeitende, darunter drei Frauen.
Frauen? Kam es deswegen nicht zu Problemen mit der Taliban-Regierung?
Es ist nicht so, dass wir für ihre Anstellung eine Bewilligung der Taliban gebraucht hätten. Wir haben die Behörden einfach der Transparenz halber über unser Personal informiert. Die Afghaninnen tragen wie alle einen Schleier. Bis jetzt gab es keinerlei Probleme.
Wie gestaltet sich die Arbeit unter dem Taliban-Regime generell? Legt es Ihnen Steine in den Weg?
Nein, überhaupt nicht. Wir haben sehr schnell die Visa und die Erlaubnis zur Rückkehr erhalten. Wir unterhalten einen rein technischen Kontakt mit den Taliban. Es gibt keine Zusammenarbeit an sich, keine informellen Kontakte, wir verhandeln nicht mit ihnen. Es gibt keinerlei Restriktionen, wir sind frei in unserer Arbeit. Wir informieren sie einfach über die Projekte, die wir unterstützen.
Die Sicherheitslage im Land hat sich laut dem Bund verbessert. Entspricht das Ihrem Eindruck vor Ort?
Im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Lage tatsächlich deutlich verbessert. In einigen Regionen kommt es noch zu Scharmützeln, Terroranschläge sind nie ausgeschlossen. Aber insgesamt sagen uns die Afghaninnen und Afghanen, dass die Sicherheitslage noch nie so gut war wie in den letzten Jahren. Sie können sich im Land frei bewegen. Auch die humanitären Helfer können heute in Gebiete gehen, die sie in den 2000ern nie hätten betreten können.
Das heisst, Afghanistan ist ein sicheres Land – man kann Menschen dorthin zurückschicken?
Das kann ich nicht kommentieren. Ich beschäftige mich mit der humanitären Arbeit und nicht mit politischen Fragen.
Jüngst waren mehrere Taliban-Beamte in der Schweiz, um die Ausschaffung von verurteilten Afghanen aufzugleisen. Inwiefern spielt das humanitäre Engagement der Schweiz für die Zusammenarbeit mit den Taliban im Bereich Migration eine Rolle? Kann und soll man die beiden Themen miteinander verknüpfen?
Die Frage mag ihre Relevanz haben. Aber es ist nicht an mir, sie zu beantworten – sondern am Parlament. Es muss entscheiden, ob es die beiden Dinge miteinander verknüpfen will. Heute besteht eine sehr klare Aufgabentrennung. Wir nutzen das eine nicht, um beim anderen etwas zu erreichen. Und wir spielen auch nicht das eine gegen das andere aus.
Wie steht es um Ihre eigene Sicherheit? Sind Sie nur in Begleitung von Sicherheitspersonal unterwegs?
Wir haben eine internationale Sicherheitsfirma engagiert. Unterwegs sind wir allerdings meist in Fahrzeugen unserer Partner, anderen Nichtregierungsorganisationen. Privat gehen wir kaum raus. Wir würden beispielsweise nie in ein Restaurant in Kabul gehen.
Mit 25 Millionen Franken unterstützt die Schweiz Afghanistan pro Jahr. Was für Projekte werden damit finanziert?
Unsere Arbeit ruht auf drei Pfeilern: Der erste ist die humanitäre Arbeit – die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Medizin. Die humanitäre Situation im Land ist sehr schwierig, besonders auf dem Land. Aber auch in den Städten. Zehntausende Afghanen kehren gerade aus Iran und Pakistan zurück – sie müssen bei null anfangen.
Und die zweite und dritte Säule?
Wir unterstützen auch Projekte, um die Landwirtschaft zu stärken. Gerade im Hinblick aufs Klima. Kabul dürfte zu den ersten Städten gehören, denen in den nächsten Jahren das Wasser ausgeht. Und der dritte Pfeiler ist natürlich der Schutz der Menschenrechte – ein besonders komplexer Bereich. Über die UNO unterstützt die Schweiz Projekte von 141 Frauenorganisationen. Diese bieten den Frauen psychosoziale Unterstützung, ermöglichen Bildung und Arbeit. So erreichen wir Tausende Frauen. Ich habe Afghaninnen auch direkt gefragt, was wir tun können, um sie zu unterstützen. Sie sagten, dass die Schweiz ihnen helfen könnte, ihre lokalen Produkte zu exportieren. Vonseiten der afghanischen Behörden sind wir frei, uns in diesem Bereich zu engagieren.
Welche Zwischenbilanz ziehen Sie nach knapp sechs Monaten vor Ort?
Ich ziehe eine sehr positive Bilanz. Der Mehrwert unseres Büros ist die Nähe. Das gibt uns ein besseres Verständnis der Situation und der Bedürfnisse der Menschen. Und das ermöglicht uns, das Geld so intelligent und zielgerichtet wie möglich einzusetzen.
Natürlich machen die Taliban jetzt keine Probleme, sie wollen ja auch was.
Keine Entwicklungshilfe ohne Rücknahmeabkommen.
Es gibt wirklich keinen Grund den Taliban Geld zu geben, bevor sie Ihren Job gemacht haben.
(Ironie off)