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Du willst nur das Beste? Voilà:
In der Schweiz streiten wir uns darüber, ob
Primarschüler zuerst Französisch oder Englisch lernen sollen. Was sagen Sie als
Sprachwissenschaftler dazu?
Das ist eine
politische Frage. Als Linguist kann ich nur sagen: Es schadet den Kindern
überhaupt nicht, wenn sie zuerst Französisch und dann Englisch lernen. Es hängt
einzig davon ab, wie sich die Schweiz als vielsprachiges Land positionieren
will.
Wenn sich Romands und Deutschschweizer treffen,
dann sprechen sie oft Englisch.
Das finde ich
persönlich schade. Seit einem halben Jahr bin ich im Schweizerischen Nationalfond
als Forschungsrat tätig. Dort spricht – zumindest in unserer geistes- und
sozialwissenschaftlichen Abteilung – jeder in seiner Sprache. Das finde ich
sympathisch – und typisch schweizerisch.
Daher würde ich schon raten, dass die Schweiz dafür sorgen sollte, dass ihre
Landessprachen in den Schulen vermittelt werden. Das Englisch kommt ja von
alleine dazu.
Die Schweiz ist grundsätzlich sehr stolz auf
ihre Sprachenvielfalt. Zu Recht?
Ja. Die meisten
europäischen Staaten sind nach dem Prinzip aufgebaut: Eine Sprache, ein Volk.
Im 19. Jahrhundert sind diesbezüglich grosse Anstrengungen unternommen worden. Frankreich
hat nach der Revolution resolut auf die Vereinheitlichung der Sprachenlandschaft
gedrückt. Auf der britischen Insel sind die einst keltischen Sprachen ins
Hintertreffen geraten. Auch in Deutschland wurde die Sprache normiert. Insofern
ist die Schweiz eine grosse Ausnahme, wenn man mal vom sehr kleinen Luxemburg
absieht. In Belgien funktioniert die Sprachenvielfalt nicht, und in Finnland
sind die schwedischen Überreste sehr marginal geworden.
Heute ist Englisch die globale Sprache. Jeder
halbwegs zivilisierte Mensch sollte sie beherrschen. Ist das eine sinnvolle
Entwicklung?
Natürlich ist es gut,
Englisch als universelle Sprache zu fördern. Aber das muss keineswegs zulasten
der Nationalsprache gehen.
Man kann heute beobachten, dass beispielsweise
deutsche Wissenschaftler an einem Kongress vor einem mehrheitlich deutschsprachigen
Publikum Englisch sprechen. Ist das nicht paradox?
Das ist in der Regel
bei Naturwissenschaftlern der Fall, die oft eine sehr spezifische Fachsprache benutzen. In den Geistes- und
Sozialwissenschaften sind die Teilnehmer meist mehrsprachig, das erzwingt eine
lingua franca. Aber es stimmt: Wer nur Deutsch spricht, hat – anders als noch im
19. Jahrhundert – grosse Schwierigkeiten.
Ärgert Sie das als deutscher Linguist nicht?
Nein, ich finde es
gut, dass ich auf Englisch auch in Nord-, Ost- und Südeuropa verstanden werde. Gerade
die jüngeren Wissenschaftler sprechen heute alle sehr gut Englisch.
Die Sprache macht den Menschen aus, sie
bestimmt seine Identität, ist eine viel gehörte These. Der berühmte
Sprachwissenschaftler Noam Chomsky sagt, dass die Sprache dem Menschen
angeboren ist.
Chomsky würde niemals
sagen, dass die Sprache die Identität der Menschen ausmacht. Er sagt bloss,
dass der Mensch die angeborene Fähigkeit hat, Sprache zu erwerben.
Heisst das: Sprache macht einem zum Menschen,
aber nicht zu einer Schweizerin oder einem Franzosen?
Genau. Sprache hat absolut nichts mit Nationalstaaten zu tun. Aber die Sprache, die wir erlernen,
hat vielfältige soziale Funktionen. Dazu gehört auch, sich einer bestimmten
Gesellschaft zuzuordnen.
Eine bestimmte Richtung der Sprachwissenschaft,
der so genannte Strukturalismus, geht davon aus, dass Sprache ihrer eigenen inneren
Logik folgt.
Das heisst aber nicht,
dass äussere Einflüsse keine Rolle spielen. Englische Wörter ins Deutsche einzufügen,
beispielsweise, ist überhaupt kein Problem.
Aber die Grammatik zu ändern ist viel schwieriger. So gesehen ist es
richtig, dass jedes Sprachsystem (im Sinn von Grammatik) gegen Veränderungen
Widerstand leistet.
Im Zeitalter der Globalisierung erhält dies zunehmend Bedeutung. Die Identität wird vermehrt in
der eigenen Sprache gesucht.
Es gibt in Europa
keine Sprache, die ernsthaft vom Englischen bedroht wird. Alle Anglizismen
beschränken sich auf einzelne Wörter und Formulierungen, die nach dem Muster
des Englischen gebildet werden, beispielsweise: «Es macht Sinn» statt «Das
ergibt Sinn».
Ist es somit lächerlich, wenn die Franzosen den
Computer «ordinateur» nennen, oder dass die Deutschen im Dritten Reich einst anstatt
von einer Banane von einem «Schlauchapfel» sprachen?
Es ist nicht
lächerlich, aber es spielt für die Erhaltung des Französischen als grosse europäische Sprache keine Rolle. In Deutschland gab es schon im späten 19.
Jahrhundert eine starke und teils erfolgreiche sprachpuristische Bewegung, die
sich damals übrigens gegen die französischen Wörter im Deutschen richtete. Wir
verdanken ihr Wörter wie Fahrschein statt Billett, Gehweg statt Trottoir oder
(weniger erfolgreich) Fernsprecher statt Telefon. Nach der Machtergreifung der
Nazis hatten die Mitglieder dieser Bewegung das Gefühl: Jetzt hat unsere Stunde
geschlagen und wollten alle Fremdwörter verbieten. Nur: Die Nazis haben sich
keinen Deut darum gekümmert.
Wir leben in einer Zeit, in der nationale
Symbole wieder stark an Bedeutung gewinnen. Eine Burka verändert unser
Kleidungssystem auch nicht. Trotzdem sprechen wir derzeit unablässig darüber.
Man kann unter den
passenden politischen Bedingungen einzelne Symbole (wie die Burka) enorm mit
Bedeutung beladen und daran viel grössere Probleme und Diskussionen aufhängen. Das geht
natürlich auch mit Fremdwörtern, die dann – unsinniger Weise – mit «der deutschen Sprache» als nationalem
Symbol gleichgesetzt wird. Als Linguist kann ich da nur sagen: Wegen der
deutschen Sprache muss man sich keine Sorgen machen. Die wird nicht untergehen,
ob wir jetzt «cool» oder «geil» sagen.
Es wird also niemals eintreten, dass alle
Menschen Englisch oder vielleicht auch Mandarin sprechen werden?
Ganz bestimmt nicht in
den nächsten hundert Jahren.
Es gibt jedoch Sprachen, die aussterben.
Aber selten unter dem
Einfluss des Englischen. Meist ist eine grössere Sprache der Nachbarschaft
dafür verantwortlich.
In der Schweiz ist das Rätoromanisch bedroht.
Die ETH Zürich hat soeben beschlossen, den Lehrstuhl für Rätoromanisch
aufzuheben.
Ich vermute mal, da
wird es heftige Proteste geben. Gerade das Rätoromanische ist ein schönes
Beispiel dafür, dass die Sprachen nicht vom Englischen verdrängt werden.
Bedauert man als Sprachwissenschaftler, wenn
eine Sprache verschwindet? Ist das ähnlich, wie wenn eine Tierart ausstirbt?
Für uns Linguisten ist
es natürlich schade, denn es verschwindet ein Teil der sprachlichen Vielfalt
auf der Welt. Aber es wäre falsch, diese Kleinstsprachen bzw. die meist sehr marginalisierten
Sprechergruppen dahinter romantisch zu verklären. Es gibt auch gute Gründe,
weshalb Sprachen verschwinden. Die Sprecher von Minderheitensprachen sehen
manchmal diese Sprachen als ein Ghetto und wollen schon aus ökonomischen
Gründen in der Mehrheitsgesellschaft ankommen. Dazu ist zumindest
Mehrsprachigkeit notwendig. Manchmal geht die dann zulasten der
Minderheitensprache, weil die Eltern sie nicht mehr an die Kinder weitergeben –
so wie das auch in Deutschland mit dem Niederdeutschen passiert ist.
Werden die Menschen friedlicher, wenn sie die
gleiche Sprache sprechen?
Es hilft, wenn sich
Menschen gegenseitig sprachlich verstehen. Sehen Sie doch, wie sich die
Kommunikationsbedingungen in Europa verbessert haben, wie viel die Menschen heute
reisen oder wie junge Leute im Ausland studieren und dabei natürlich auch
andere Sprachen lernen, um sich zu verständigen. Eine gemeinsame Sprache zu
sprechen fördert Kommunikation. Und miteinander reden macht in der Tat das
Zusammenleben friedlicher.
Trotzdem befindet sich Europa derzeit in einer
Identitätskrise.
Sie hängt mit der
Einwanderung von Flüchtlingen zusammen. Was wir auf anderen Gebieten erreicht
haben, wird sich nicht so schnell wieder rückgängig machen lassen. Der «Spiegel» hat
einmal die Frage aufgeworfen, ob es in 100 Jahren noch Deutsch gäbe. Eine
überwältigende Mehrheit hat mit Nein geantwortet. Das ist völlig absurd. Es
gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass eine Sprache, die rund 100 Millionen
Menschen sprechen, in absehbarer Zeit zugrunde gehen wird.
Es gibt eher eine Gegenbewegung. Alte Sprachen
werden wieder von Jungen gelernt.
Gerade im Zeitalter
der Globalisierung – um dieses meiner Ansicht nach eher irreführende Wort zu
verwenden – wächst das Bedürfnis nach einem Ort, wo man sagen kann: Da bin ich zuhause. Dazu gehört auch eine
Sprache, um das auszudrücken. Unter der Woche spricht man bei der Arbeit viel
Englisch, aber am Wochenende entspannt man sich mit dem eigenen Dialekt.
Das Internet und die sozialen Medien üben einen
starken Einfluss auf die Sprache aus. Viele Menschen – auch gut ausgebildete –
können kaum mehr einen sprachlich korrekten Text verfassen. Wie beurteilen Sie
das?
Interessant ist
zunächst die Tatsache, dass Menschen heute viel mehr schreiben. Die geschriebene Sprache hat eine ganz andere
Funktion erhalten. Früher war es für die meisten Menschen ein Kraftakt, zum
Beispiel einen Brief zu schreiben, und sie haben es auch nur selten getan.
Jetzt schreiben alle – und zwar massenhaft.
Aber sie tun es mit mangelhafter Orthographie
und lausiger Grammatik.
Es ist nicht
verwunderlich, dass sich bei SMS, Whatsapp etc. eine lockere Art des
Schreibens durchsetzt. Ich sehe allerdings auch eine Gefahr darin, dass man
nicht mehr unterscheidet, ob man eine SMS tippt oder einen Aufsatz schreibt.
Deutschlehrer beklagen deswegen händeringend
den Untergang des Abendlandes.
Der Einfluss des
Internets und der sozialen Medien auf die Sprache ist tatsächlich meiner
Ansicht nach fundamentaler als derjenige des Englisch. Weil die Menschen heute
so viel schreiben, müssten sie auch besser lernen ihren Schreibstil danach zu richten, wofür sie schreiben. Bei
manchen Texten – nicht bei Whatsapp oder Twitter vielleicht – gibt es triftige
Gründe, gut zu schreiben und beispielsweise darauf zu achten, dass ein Text
auch leicht verständlich ist. Das ist man seinem Leser und seiner Leserin schuldig.
Teenager telefonieren nicht mehr, sie texten,
weil ihnen die gesprochene Sprache zu intim geworden ist.
Wir alle haben heute
Hemmungen, jemanden spontan anzurufen. Das ist uns zu direkt geworden.
Stattdessen schreiben wir eine SMS oder eine E-Mail. Andererseits sind wir
dadurch permanent mit Leuten in Kontakt, auch wenn sie physisch weit entfernt
sind. Es gibt also einerseits mehr Distanz,
andererseits mehr Nähe.
Die Übersetzungsprogramme werden immer besser,
Chatboxes wie Siri immer klüger. Werden Maschinen bald die menschliche Sprache
beherrschen?
Siri wird sicher noch
viel klüger werden, sie lernt ja ständig. Sie wird aber noch lange grosse
Schwierigkeiten in der Face-to-face-Kommunikation haben.
Trotzdem: Ist es denkbar, dass Maschinen dereinst
sprechen werden?
Sprechen tun sie ja
schon, nur nicht so wie wir Menschen. Und sie verstehen nicht so wie Menschen. Wir
sind in der Lage, uns ständig auf den veränderten Kontext einzustellen, in dem
wir sprechen. Wir machen das durch kleine Veränderungen der Dialektalität, des
Tonfalls, der Formulierung, die wir wählen, durch kleine Andeutungen etc. Wir
verstehen nicht nur den Inhalt, sondern wir ziehen daraus Schlüsse, wir verstehen, was hinter der
Aussage liegt, in dem wir all diese Kleinigkeiten ständig miteinbeziehen.
Dieses Verstehen dessen, was hinter dem Gesagten liegt, ist die
Hauptherausforderung für sprechende Maschinen. Sie brauchen dazu Kontext- und
Situationsmodelle, die ziemlich schwierig zu konstruieren sind. Da wird es
sicher noch grosse Fortschritte geben, aber die Subtilität, mit der wir Menschen
das Gemeinte aus dem Gesagten heraushören, wird auf absehbare Zeit nicht
erreichbar sein.