«Ich mag Menschen nicht, die Kinder vergewaltigen.» So lautet der Schlusssatz von einem Text, der in den letzten Tagen als Protest-Aktion auf der Plattform Reddit mehrfach repostet wurde. Dabei wurde eine britische Politikerin namens Aimee Challenor kritisiert, die mit einem pädophilen Mann verheiratet sein soll.
Frau Egli-Alge, was denken Sie, wenn Sie diesen Post lesen?
MONIKA EGLI-ALGE: Als Bürgerin kann ich diese Meinung nachvollziehen. Ich verurteile sexuellen Missbrauch an Kindern aufs Schärfste. Allerdings verurteile ich nicht die Person, sondern die Tat. Die Aussage ‹Alle Pädophilen vergewaltigen Kinder› ist schlicht falsch. Nicht jeder Mensch mit Pädophilie begeht sexuellen Kindesmissbrauch und nicht jeder Sexualstraftäter, der sich an Kindern vergeht, ist pädophil.
Wie viele Pädophile vergehen sich denn an Kindern?
Knapp die Hälfte der Personen mit pädophiler Neigung begehen Delikte. Das kann in Form von sexuellen Übergriffen sein oder indem sie illegale Abbildungen von sexuellem Kindesmissbrauchs nutzen, sprich Kinderpornografie. Ausserdem hat man festgestellt, dass jeder zweite Täter von sexuellen Delikten an Kindern eine pädophile Neigung hat.
Sie therapieren Menschen, die Kinder sexuell anziehend finden. Wer kommt zu Ihnen in die Therapie?
Querbeet: vom Familienvater, über den Studenten, zum Hochschulprofessor bis hin zum Handwerker. Manchmal sind Personen darunter, die eine geistige Behinderung haben. Auch bezüglich der sexuellen Neigung, also hetero-, homo- oder bisexuell, kommt alles vor.
Bei wie vielen wurde die Therapie verordnet?
Bei rund 70 Prozent wurde die Therapie richterlich angeordnet.
Sind auch Frauen darunter?
Äusserst selten. Während der 15-jährigen Laufzeit unseres Angebots haben wir im Forensischen Institut Ostschweiz «forio» drei Frauen wegen sexuellen Delikten behandelt. Nur eine davon hatte tatsächlich pädophile Präferenzen.
Sie sprechen von Präferenzen. Pädophilie wird jedoch auch als Krankheit oder psychische Störung bezeichnet. Was stimmt nun?
In der Psychologie spricht man von sexuellen Präferenz-Besonderheiten. Die Sexual-Medizin bezeichnet Pädophilie als sexuelle Ausrichtung auf ein bestimmtes Körperschema, also welche Körper man anziehend findet: erwachsene, jugendliche oder kindliche.
Wie entsteht Pädophilie?
Das weiss man nicht. Es gibt verschiedene Theorien, Forschungen und Ansätze, aber niemand kann es abschliessend erklären. Man kann es sich so vorstellen: Bei den meisten Menschen altern die Körperschemen, die sie anziehend finden, mit dem eigenen Altern mit. Bei pädophilen Menschen stoppt das quasi im Kindes- oder Jugendalter.
Fühlen sich Pädophile ihr Leben lang von Kindern angezogen?
Ja, das kann man nicht weg therapieren. Wenn sich jemand vom erwachsenen Körperschema angezogen fühlt, kann man den auch nicht plötzlich auf Kinder umpolen.
Pädophilie ist also unheilbar. Was ist das Ziel der Therapie?
Das oberste Therapieziel ist, nicht straffällig zu werden. Wenn jemand schon Delikte begangen hat, sollen keine neuen hinzukommen. Im zweiten Schritt geht es darum, dass der Betroffene akzeptiert, seine sexuelle Präferenz nicht ändern zu können. Und im dritten Schritt geht es um die Verhaltenskontrolle und damit auch, wie die Person ihre Sexualität im grünen Bereich ausleben kann.
Und wie lebt man Pädophilie im ‹grünen Bereich› aus?
Das ist sehr individuell. Einige Betroffene leben abstinent, andere nutzen Vorlagen, die legal sind. Das sind beispielsweise Magazine oder Werbung, wo Bilder von Kindern in Unterwäsche zu sehen sind. Viele Betroffene sind auch in einer Beziehung mit einer gleichaltrigen Person und arbeiten dann einfach mit ihrer Fantasie, sind vielleicht während dem Sex mit den Gedanken an einem anderen Ort.
Also sie denken während dem Sex an Kinder, nicht an die Partnerin oder den Partner.
Je nach Person, ja. Allerdings fühlt sich nicht jeder Betroffene ausschliesslich vom kindlichen Körperschema angezogen, sondern auch vom erwachsenen. Man spricht dann von einer ‹nicht ausschliesslichen Ansprechbarkeit des kindlichen Körperschemas›. Diese Personen können die Anziehung zu Kindern auch besser unterdrücken. In einer Partnerschaft müssen gewisse Fragen aber unbedingt besprochen werden: Findet mein Partner mich als erwachsene Frau überhaupt attraktiv? Oder denkt er nur an Kinder?
Wie oft können Betroffene offen über diese Fragen sprechen?
Selten. Wir lernen viele Patienten kennen, die in einer Beziehung mit einer erwachsenen Person sind, ihr das aber nicht sagen können. Sie schämen sich und haben Angst, verlassen zu werden.
Aber grundsätzlich schliessen sich Pädophilie und eine Beziehung unter Gleichaltrigen nicht aus?
Absolut nicht. Wir betreuen bei «forio» auch Paare, bei denen der Mann pädophil ist. Aber es bedeutet viel Arbeit und Kommunikation. Das ist nicht einfach. Eine Betroffene sagte kürzlich zu mir: ‹Ich kann nur mit Ihnen über dieses Thema reden. Wenn ich meiner besten Freundin sagen würde, dass mein Mann pädophil ist, würde sie mich verstossen›. Und der Partner dieser Frau ist neben der Tatsache, dass er Pädophilie hat, ein ganz feiner Mensch.
Sie sagen, nicht alle Pädophile fühlen sich ausschliesslich von Kindern angezogen. Wie viele sind das?
Statistisch gesehen kommt die nicht ausschliessliche Präferenz weit häufiger vor. Es gibt also weniger pädophile Menschen, die sich nur vom kindlichen Körperschema angezogen fühlen. Die haben es auch um einiges schwerer.
Empfehlen Sie diesen Männern die chemische Kastration?
Nicht per se. Von unseren Patienten sind nur ganz wenige chemisch kastriert, also mit Anti-Androgenen behandelt. Bei sechs Personen haben wir das als nötig erachtet und empfohlen. Das Medikament verschrieb dann ein Facharzt.
Hat die Behandlung etwas gebracht?
Wir haben sehr schlechte Erfahrungen damit gemacht. Eine chemische Kastration verhindert oder erschwert zwar eine Erektion, aber die Fantasien und der Wunsch nach einem Orgasmus bleiben. Das kann zu verzweifelten Versuchen führen: In einem Fall onanierte ein Mann so extrem, dass er eine Sehnenscheiden-Entzündung hatte. Er war geistig behindert und versuchte in seinem Unverständnis und in seiner Verzweiflung immer mehr, eine Erektion zu bekommen.
Welche medikamentösen Behandlungen empfehlen sie?
Viele Patienten, die bei uns in Therapie sind, werden gleichzeitig zu ihrer Pädophilie depressiv. Ein nachvollziehbarer Prozess, wenn man gegen sein heikles Begehren nichts tun kann. Diese Patienten werden dann mit Anti-Depressiva behandelt, was zur Minderung der Libido führt. Das empfinden viele als angenehm.
Zeigen Sie einen Patienten an, wenn er Ihnen erzählt, dass er ein Kind misshandelt hat?
Wir haben keine Anzeigepflicht. Wir zeigen eine Person nur an, wenn Gefahr im Verzug ist. Also wenn uns jemand in der Therapie eingesteht, dass er das nächstbeste Kind verführen und mitnehmen würde. Das haben wir sehr selten, denn viele unserer Patienten haben ein gewisses Niveau von Verhaltenskontrolle.
Wie fühlt es sich an, jeden Tag mit pädophilen Menschen zusammenzuarbeiten?
Zum Teil echt schräg. Pädophilie ist etwas, das man eigentlich nicht nachvollziehen kann. Eine Lebenskrise oder Depressionen kann man irgendwie verstehen, jeder hatte schon schlechte Phasen. Aber in einen pädophilen Menschen kann ich mich nicht vollständig einfühlen, das ist so weit weg von meinem persönlichen Einfühlungsbereich. Aber das muss ich auch nicht. Als Therapeutin kann und muss ich nachvollziehen, dass jemand pädophil ist und extrem darunter leidet.
Haben Sie Kinder?
Ja, zwei unterdessen erwachsene Söhne.
Fällt Ihnen die Arbeit zum Teil schwer?
Manchmal muss ich mir kinderpornografisches Material ansehen. Als Frau, als Mutter finde ich das scheusslich! Aber als Psychologin und Therapeutin habe ich einen Filter drin und lasse diese Bilder nicht nahe an mich herankommen.
Gelingt Ihnen das immer?
Ich muss sagen, eigentlich ja. Wir legen in unserem Team Wert auf eine sehr offene Gesprächskultur, man darf alles sagen. Auch, wenn es einem zu viel wird. Die Psychohygiene ist in unserem Beruf sehr wichtig.
Wurden Sie für Ihren Beruf auch schon kritisiert?
Als ich anfing mit dieser Arbeit hörte ich von Personen aus meinem Umfeld oft ‹Das könnte ich nicht, niemals›. Das ist auch in Ordnung, nicht jeder oder jede muss das können.
Warum wollen Sie es können?
Meine Motivation ist der Kindesschutz. Ohne Therapie würden mehr pädophile Menschen zu Tätern.
Müssten wir als Gesellschaft unseren Umgang mit Pädophilen überdenken?
Definitiv. Diese Stigmas «Pädophil gleich Kinderschänder» oder dass Pädophile schon anders könnten, wenn sie wollten, stimmen nicht. Damit schützt man die Kinder nicht, im Gegenteil. Aber wir bringen diese Vorurteile fast nicht aus den Köpfen der Leute.
Wie soll man Ihrer Meinung nach mit dem Thema umgehen?
Man müsste so darüber reden, wie wir das gerade tun: differenziert. Nicht wie in diesem Reddit-Post, den Sie mir gezeigt haben. Es braucht Information und Sensibilisierung. Das oberste Ziel ist, dass sich Betroffene Hilfe holen, bevor sie eine Tat begehen. Man kann keine Täterprävention machen, wenn das Thema tabuisiert wird.
Der Dank gebührt Frau Egli-Alge und ihrem Team, zum einen für ihre Arbeit, zum anderen dafür, dass sie sich mit ihrem Engagement exponieren.