Ein turbulentes Jahr hat die CSS hinter sich: Der grösste Grundversicherer der Schweiz feierte sein 125-jähriges Bestehen. Die CSS hielt aber nicht nur Geschenke bereit, sondern musste auch die Prämien relativ stark erhöhen, weil die Reserven tief sind. CEO Philomena Colatrella ist aber voller Zuversicht, nachdem die Bevölkerung im November einer wichtigen Gesundheitsreform zugestimmt hat. Sie sagt, was die Kosten am stärksten treibt, was Gesundheits-Apps können und was 2025 zu tun ist.
Frau Colatrella, die letzten drei Jahre sind die Prämien stark gestiegen …
Philomena Colatrella: … ja, seit Corona noch erheblich stärker.
Wieso?
Es gab starke Nachholeffekte nach der Pandemie. Dazu kam ein politisch bestellter Reserveabbau. Weiter war 2022 ein schlechtes Jahr an den Finanzmärkten. Das hat sich wiederum negativ auf die Reserven ausgewirkt. Und schliesslich ja, – wir sehen, dass die Gesundheitskosten seit dem Ende der Covid-Pandemie noch stärker steigen als zuvor, es gibt keine Erholung – bis letzte Woche!
Letzte Woche?
Ich schaue die Entwicklung der Gesundheitskosten jede Woche an. Und ja, sie wachsen und wachsen.
Was zeigen die Zahlen?
Häufigere Arztbesuche, grosses Kostenwachstum im Bereich der psychischen Erkrankungen, bei der Pflege und im ambulanten Bereich. Der grösste Kostentreiber ist aber die Innovation.
Was bedeutet das, Innovation?
In den letzten zehn Jahren machten neue Technologien einen Drittel des Kostenanstiegs aus. Damit sind neue Medikamente und neue Therapien gemeint. Die sind freilich wichtig, weil sie Leben retten oder verlängern. Hier müssen wir das Kostenwachstum aber mit neuen Preismodellen bremsen. Das Parlament beschäftigt sich aktuell mit dieser Thematik, es werden unter anderem Rabattierungsmodelle diskutiert. Wir müssen aber auch definieren, welche Leistungen für Gesundheit und welche für Wellbeing sind und wie wir damit umgehen wollen.
Reden Sie von den Fettweg-Spritzen?
Zum Beispiel. Die Ausgaben für diese Produkte steigen sehr stark. Die CSS budgetiert für 2025 allein für Wegovy 50 Millionen Franken. Im laufenden Jahr fielen bei uns zeitweise über 35 Prozent aller Kostengutsprachegesuche auf dieses Produkt. Wir sehen aber auch fantastische Ergebnisse bei adipösen Menschen, die jahrelang mit Diäten versuchten, das Gewicht zu kontrollieren. Jetzt geht das mit Spritzen, bald auch mit Tabletten. Ob das die Gesundheit langfristig und nachhaltig fördert, ist indes noch nicht klar.
Muss die Gesellschaft dies solidarisch finanzieren?
Ich habe noch keine abschliessende Meinung. Wichtig wäre, dass sich langfristig positive Effekte zeigen.
Spitäler verrechnen für Implantate zum Teil Fantasiepreise. Welche Möglichkeiten haben Krankenversicherungen, dies zu kontrollieren?
Wir haben tatsächlich Hinweise auf Fälle, bei denen die in Rechnung gestellten Preise systematisch überhöht scheinen. Wir klären diese Fälle einzeln ab, was sehr aufwendig ist. Denn wir müssen für jede verrechnete Position den Lieferschein einfordern und diese Kosten mit den uns in Rechnung gestellten Kosten vergleichen.
Gehen Sie davon aus, dass die Prämien weiterhin jährlich um 6, 7 oder 8 Prozent wachsen?
Ich hoffe nicht. Wir müssen aber die Diskussion über Zugang, Qualität und Innovation zusammen mit den finanziellen Folgen führen. Reformen, für die man sich entschieden hat, müssen jetzt umgesetzt werden. Und es müssen neue folgen.
Müssen die Patienten direkter an den Kosten beteiligt werden?
Dinge wie eine Bagatellgebühr im Notfall bringen nicht viel. Wichtiger wäre es, die Menschen zu präventivem Verhalten zu bewegen.
Wie schaffen das die Krankenkassen?
Beispielsweise indem sie konkrete Massnahmen vorschlagen, um das eigene Verhalten zu verbessern, bevor eine Krankheit eintritt.
Wie denn? Über Apps?
Ja, aber nicht nur. Das Angebot unserer Active-365-App wird rege genutzt – wobei wir freilich nichts über den Gesundheitszustand der Menschen wissen. Trotzdem kommen unsere Angebote gut an. Als wir die 10'000 Schritte vor zehn Jahren auf der App einführten, wurde das sofort genutzt. Wir bieten darüber hinaus über 20 Gesundheitsleistungen an. Sehr stark nachgefragt werden unsere Gesundheitscoaches zum Thema Schlaf, Ernährung oder psychische Gesundheit.
Sind das Angebote in der Zusatzversicherung?
Nein, die stehen unentgeltlich zur Verfügung. Wir sehen, dass gerade die Beratung wichtig ist, auch Zweitmeinungen vor Operationen werden rege eingeholt. Viele Menschen rufen an, weil sie nicht sicher sind, ob sie einen Eingriff machen sollen. 50 Prozent der Zweitmeinungs-Anruferinnen und -Anrufer verzichten auf die Operation.
Können Sie sagen, wie viele Wechsel die CSS 2025 hat?
Wir haben wie erwartet Kunden verloren. Der uns mancherorts prognostizierte «perfekte Sturm» ist aber ausgeblieben. Wir stellen fest, dass wir eine grosse Markenstärke und eine hohe Kundenloyalität haben.
Die CSS musste die Prämien erhöhen, weil sie die gesetzlichen Vorgaben zu den Reserven nicht erfüllt.
Die gesetzlichen Reserven sind auf den Jahrhundertfall einer Pandemie ausgerichtet. Wir könnten mit unseren Reserven mehrere Pandemien stemmen, wenn es sein muss. Ich bezweifle darum, dass eine vorübergehende Unterschreitung ein Problem ist. Was mich ärgert, ist der politisch befeuerte Reserveabbau unter Bundesrat Alain Berset. Es zeigte sich schon früher, dass auf einen solchen Abbau brutale Nachholeffekte folgen.
Ist die CSS gefährdet?
Der CSS geht es gut. Sie ist grundsolide. Es handelt sich auch ein bisschen um einen Medienrummel.
Ungerechtfertigterweise?
Es gibt Gründe für die Reserven-Thematik, die viele Versicherer in der Branche betrifft. Während der Pandemie haben wir bei der CSS vier Fusionen durchgeführt und dabei noch Kunden gewonnen. Das ist eine grosse Leistung. Gewisse Bereinigungseffekte treten jetzt ein. Dabei wird unterschlagen, dass wir vor vier Jahren die Reserven bei 244 Prozent hatten.
Wie kam es denn zur Reduktion auf 84 Prozent?
Die vier genannten Elemente: Reserveabbau, Fusionen, schwierige Lage an den Finanzmärkten und wachsende Gesundheitskosten. Was am wichtigsten ist: mit den getroffenen Massnahmen werden wir die Vorgaben schon bald wieder erfüllen. Wir wussten, dass 2024 ein Aufholjahr wird. Die Vorzeichen zeigen bereits in die richtige Richtung.
Sind sie weiterhin die grösste Krankenkasse der Schweiz?
Ich gehe davon aus, dass wir die Marktführerschaft verteidigen können.
Sie gehen neue Wege mit dem Ensemble Hôspitalier de la Côte (EHC) in der Waadt. Dort werden komplexe Fälle eng begleitet, wodurch Kosten gespart werden sollen. Funktioniert das Modell?
Die Stärke dieses Netzwerks liegt in der umfassenden Versorgung, die den gesamten Behandlungsverlauf abdeckt. Eine verbesserte Koordination vermeidet überflüssige Untersuchungen und verbessert die Versorgungsqualität, was langfristig Gesundheitskosten senkt. Das neue Modell wurde gemeinsam und «bottom-up» entwickelt. Wir suchen solche regionale Versorgungsstrukturen und bieten ihnen eine Zusammenarbeit an. Das ist die Zukunft. Vor allem dort, wo eine äussere Notwendigkeit besteht, wie etwa ein Mangel an Hausärzten, schliessen sich Akteure zusammen. Eine «Top-down-Regulierung», wie sie das Parlament mit dem Netzwerkartikel aktuell diskutiert, wäre hingegen eine Bremse für die integrierte Versorgung.
Wieso?
Solche Versorgungscluster funktionieren nur, wenn die involvierten Akteure wirklich gewillt sind, verbindlich zusammenzuarbeiten. Wenn es uns gelingt, mit solchen Versorgungsmodellen die Versorgung zu steuern und verbessern, hilft das den Patienten – und dem Portemonnaie. Der Beweis, dass es auch für Spitäler und Ärzte attraktiv ist: Sie melden sich bei uns und zeigen Interesse an einer Kooperation.
Was bedeutet das für mich als Versicherte? Darf ich mich dann nur noch innerhalb dieses Netzwerkes behandeln lassen?
Ja, sie verpflichten sich dazu. Wenn Sie das nicht mehr wollen, steigen sie wieder aus. Wichtig ist aber auch, dass Informationen unkompliziert ausgetauscht werden können. Das EHC hat dazu ein eigenes elektronisches Patientendossier entwickelt. Das müsste endlich auch auf nationaler Ebene noch gelingen. Eine gesamtschweizerische Dateninfrastruktur ist für unsere Kundinnen und Kunden, aber auch für den Forschungsplatz Schweiz zentral.
Die Bevölkerung hat der grössten Gesundheitsreform seit 30 Jahren zugestimmt, die Kantone werden sich stärker an den Gesundheitskosten beteiligen. Können Sie sich nun zurücklehnen?
Nein, im Gegenteil. Jetzt müssen wir den Beweis antreten, dass wir die Gesundheitsversorgung effizienter gestalten können. Die einheitliche Finanzierung verbessert unsere Ausgangslage, ich habe lange mitgefiebert und mich über die Zustimmung zur Reform gefreut. Wir brauchen einen Schub in der Ambulantisierung.
Wie gelingt das?
Die einheitliche Finanzierung ist der wichtigste Hebel, um die koordinierte Versorgung voranzubringen, um die Silos aufzubrechen und die Patienten anhand ihrer Bedürfnisse möglichst effizient zu versorgen. Alle Gesundheitsakteure müssen nun ihre Verantwortung wahrnehmen.
Wie geht das konkret?
Entscheidend ist, dass sich die Spitäler und Ärzte sowie die Krankenversicherer einigen, wie wir den Shift vom stationären Bereich in den ambulanten Bereich schaffen. Das bedingt neue Strukturen. Auch dass wir Behandlungen ausserhalb der stationären Betriebe machen. Da sind vor allem die Spitäler gefragt.
Ist das realistisch? Viele Spitäler sind nicht auf ambulante Leistungserbringung ausgerichtet. Wie lässt sich das zusammenbringen?
Das ist insbesondere die Aufgabe der Kantone, hier den Weg zu zeigen: Bei der Spitalplanung braucht es eine Transformationsstrategie. So könnte der Anteil an ambulanten Behandlungen künftig eines der Kriterien für die Vergabe kantonaler Leistungsaufträge werden. Zudem könnten die Kantone die Liste der Leistungen ausweiten, die ambulant statt stationär erbracht werden müssen.
Die Spitalstrukturen sind auch aufgrund der gigantischen Investitionen auf mehrere Jahre hinaus gefestigt. Reden wir von zwei, fünf oder zehn Jahren?
Um die Versorgung neu auszurichten, ist sicher ein längerer Zeitraum nötig. Heute machen sehr viele Spitäler dasselbe. Das ist ein strukturelles Problem. Die Frage ist nun: Was davon braucht es noch? Was kann in den ambulanten Bereich ausgelagert werden?
Welche Rolle spielen die Krankenkassen?
Wir können mit neuen Versicherungsmodellen Anreize setzen, dass Behandlungen primär ambulant durchgeführt werden.
Wie funktioniert das konkret?
Aufgrund der einheitlichen Finanzierung können wir die Versicherten darauf hinweisen, dass eine ambulante Leistung nun vorrangig sei. Wir hoffen in diesem Zusammenhang auch auf eine Gesetzesänderung im Datenschutzbereich, um den Versicherten gewisse Behandlungen empfehlen zu dürfen, wenn es eine günstigere, gleichermassen wirksame Therapie gibt. Dafür müssen wir mit den Leistungserbringern Wege suchen.
Heisst das, es braucht nochmals überarbeitete Tarife, um Anreize für ambulante Behandlungen zu schaffen?
Der neue Tarifvertrag Tardoc geht in die richtige Richtung. Er bildet medizinische Leistungen sachgerecht ab. Für die integrierte Versorgung müssen wir neue innovative Tarifstrukturen definieren, um den Wandel hin zum Ambulanten zu schaffen. Es braucht neue Anreize.
Ein Hindernis für die Ambulantisierung sind die Zusatzversicherungen: Solange die Spitäler bei Privatpatienten stationär mehr verdienen, haben sie kaum Anreize, Leistungen ambulant zu erbringen.
In den letzten vier Jahren haben wir die Produkte der Zusatzversicherung auf echte Mehrleistungen ausgerichtet. Auf Hotellerie, freie Arztwahl, kürzere Wartezeiten. Das hat Fehlanreize entschärft. Aus Versichererperspektive sehe ich im Übergang zum Ambulanten auch Potenzial für neue Produkte.
Die Krankenkassen sind seit Jahren daran, ambulante Produkte in der Zusatzversicherung zu verkaufen. Ohne Erfolg.
Weil ambulante Leistungen stets als Leistungen der Grundversicherung angeschaut wurden. Indem wir einen Teil der stationären Leistungen in den ambulanten Bereich verlagern, gibt es neue Möglichkeiten: Ruheräume, verkürzte Wartezeiten oder Wahl des operierenden Arztes.
Brauchen wir denn alle Leistungen, die heute über die Grundversicherung finanziert werden?
Das ist eine Diskussion, die niemand gerne führt. Dabei müssten wir den Leistungskatalog überdenken und ihn besser bewirtschaften. Längst nicht alle Behandlungen entsprechen noch den gesetzlichen Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit. Wir müssen Platz machen für Innovationen.