Schweiz
Interview

SVP greift Städte an: So kontert das SP-Führungsduo

Das neue Tram "Flexity" rollt ueber die Tramschienen, aufgenommen am Donnerstag, 15. Oktober 2020 in Zuerich. (KEYSTONE/Ennio Leanza)
Das neue Flexity-Tram in Zürich steht für den ausgebauten öffentlichen Verkehr in den Städten.Bild: keystone
Interview

«Das hat mit der Schweiz nichts zu tun, die SVP hat sich im Land geirrt»

Mit ihrem neuen Positionspapier bläst die SVP zum Angriff auf die «linksgrünen Schmarotzer-Städte». Das SP-Führungsduo Mattea Meyer und Cédric Wermuth reagiert gelassen. Die SVP versuche, von ihren eigentlichen Zielen abzulenken.
10.09.2021, 20:2712.09.2021, 10:06
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Die SVP hat einen Forderungskatalog präsentiert, der auf die linksgrünen Städte zielt, die Hochburgen der SP. Kommt jetzt die Retourkutsche gegen die Landbevölkerung?
Mattea Meyer:
Im Gegenteil. Die SVP spielt immer Menschen gegeneinander aus. Sie setzt auf Spaltung, statt eine Gesellschaft anzustreben, in der Freiheit für alle gilt, nicht nur für diejenigen, die es sich leisten können.

Und für «Luxus-Sozialisten» ...
Meyer:
Die SVP ist wütend, weil die Städte beweisen, dass die Politik der SP dort funktioniert, wo wir eine Mehrheit haben. Einen ausgebauten öffentlichen Verkehr wollen wir nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. Die SVP aber bekämpft das seit Jahren. Da habe ich ein gewisses Verständnis, wenn die Leute sagen, sie seien auf das Auto angewiesen. Wir kämpfen für eine öffentliche Infrastruktur, die allen zugänglich ist, auch bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Das neu gewaehlte Praesidium der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz mit Mattea Meyer, Nationalraetin ZH, rechts, und Cedric Wermuth, Nationalrat AG, links, am Parteitag in Basel am Samstag, 17. O ...
Der Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth und die Zürcher Nationalrätin Mattea Meyer teilen sich seit 2020 das Präsidium der SP Schweiz.Bild: keystone

Es braucht mehr Kitas auf dem Land?
Meyer:
Ich war letzte Woche im Entlebuch. Eine Frau hat mir erzählt, sie suche händeringend nach einer Tagesmutter. Von einer Kita könne sie ohnehin nur träumen.
Cédric Wermuth: Früher war die SVP vielleicht noch die Partei von Bauern und Gewerbe, aber die heutige Führung scheint den Bezug zur Realität der Mehrheit im Volk komplett verloren zu haben. Sie lebt in einer Elite-Bubble und bewegt sich offenbar kaum noch unter normalen Menschen. Wir sind nicht die USA, bei uns sind Stadt und Land stark zusammengewachsen. Drei Viertel der Menschen leben im urbanen Raum. Man kann Stadt und Land vielleicht mit akademischen Statistiken gegeneinander ausspielen, aber das hat mit der Lebensrealität der Menschen nichts zu tun.

Was steckt dann nach Ihrer Ansicht hinter der Anti-Stadt-Strategie?
Wermuth:
In der zweiten Hälfte der Legislatur kommt eine Reihe von Vorlagen, bei denen auch der SVP-Basis klar werden wird, wie sehr ihr Parteiestablishment einen Klassenkampf von oben gegen die arbeitenden Menschen führt. Das geht von den Steuersenkungen für die Reichen auf Kosten aller über Angriffe auf den Mieter bis zum Versuch, die AHV anzugreifen. Davon will die SVP ablenken.

Was sagen Sie zur These, dass die SVP die Städte als neues Feindbild bewirtschaftet, weil ihre klassischen Themen wie Ausländer oder Europa nicht ziehen?
Meyer:
Die SVP lebt von Feindbildern, um von ihren eigentlichen Vorhaben abzulenken. Sie will die Menschen gegeneinander ausspielen. Das zeigt sich jetzt auch in der Coronakrise. Die SVP ist nicht daran interessiert, in dieser schwierigen Lage die Gesellschaft zu einen. Sie setzt auf Spaltung und boykottiert Impfbemühungen, bis hin zu Bundesrat Ueli Maurer.
Wermuth: Es ist kein Zufall, dass der Angriff auf die Städte genau jetzt passiert. Auch die SVP hat gemerkt, dass die Pandemie bewiesen hat, wie wichtig der Sozialstaat, das öffentliche Gesundheitswesen und der Service Public sind. Wenn Fraktionschef Thomas Aeschi erst in den letzten Tagen festgestellt hat, dass wir zu wenig Gesundheitspersonal haben, kann ich nur lachen. Die SVP lehnt die Pflege-Initiative ab, die genau das Problem der schlechten Arbeitsbedingungen und des Fachkräftemangels angeht. Gerade die SVP wehrt sich im Parlament immer gegen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen in der Pflege.

Also handelt es sich um ein Ablenkungsmanöver?
Wermuth:
Die SVP spürt, dass der Druck zunimmt, den Service public auch in den Agglomerationen und den Landgemeinden auszubauen. Gerade in Sachen Kitas, oder wenn es um den Sozialversicherungsschutz für Selbständige geht. Das kann man nur finanzieren, wenn jene, die viel Geld haben, sich daran beteiligen. Also gerade Leute in den Einkommenskategorien wie die SVP-Multimillionäre Aeschi, Matter oder Martullo. Die SVP ist zumindest in Bern heute weitgehend von den Lobbys der grossen Wirtschaftsverbänden korrumpiert. Die wollen um jeden Preis vermeiden, dass sie einen gerechten Anteil an den Steuern zahlen sollen.

Die SVP könnte aber einen Nerv treffen. Es gibt auf dem Land Ressentiments gegenüber den Städten. Das zeigte sich bei der letzten Volksabstimmung. Es gab einen massiven Backlash gegen die beiden Agrarinitiativen, der auch das CO2-Gesetz versenkte.
Meyer:
Das bestreitet niemand. Bei den Agrarinitiativen ging es stark um die bäuerliche Identität. Mir ist das nicht fremd, ich habe meine ersten zehn Lebensjahre auf dem Land verbracht. Und wenn man auf das Auto angewiesen ist, weil die rechte Mehrheit seit Jahren den Ausbau des öffentlichen Verkehrs verhindert, stimmt man halt Nein zum CO2-Gesetz.
Wermuth: Die Analyse ist richtig, dass auf dem Land gewisse Dinge schwieriger sind als in der Stadt. Auf dem Land ist es schwieriger, einen Kita-Platz zu finden, und er ist erst noch teurer. Das Ziel muss es aber sein, dass alle einen Kita-Platz bekommen. Umgekehrt gibt es Dinge auf dem Land, die man in den Städten übernehmen könnte. Dort sind die Mietpreise unhaltbar. Es braucht mehr Genossenschaftswohnungen in den Städten.

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Die Agrarinitiativen führten zu einem massiven Backlash auf dem Land.Bild: keystone

Die städtische Verkehrspolitik mit ihrer Devise «Weniger Parkplätze, mehr Raum für Velos» kann für die auswärtige Bevölkerung aber schon provokativ wirken.
Meyer:
Ich wohne in Winterthur. Wir haben eine der schönsten autofreien Altstädte der Schweiz. Teilweise fuhren dort bis in die 1990er Jahre Autos. Jetzt sind es Flaniermeilen, was dem lokalen Gewerbe extrem zugute kommt. Jetzt kommen die Leute nicht einfach mit dem Auto zum Einkaufen und fahren gleich wieder weg, sie sitzen auch ins Café. Davon profitieren nicht nur die Winterthurer, sondern auch Leute aus Frauenfeld oder Neftenbach.
Wermuth: Im Aargau will die bürgerliche Mehrheit mit der SVP jetzt schon wieder die Gewinnsteuern senken. Wie soll das finanziert werden? Das bedeutet dann wieder, dass man ÖV-Linien in den Regionen streicht, Zuschüsse für Krankenkassenprämien kürzt, die Präsenz der öffentlichen Dienste wie Polizei oder Gesundheitsdienste gerade auf dem Land weiter abnimmt. Damit nimmt die der Unterschied in der Versorgungsqualität auf dem Land zu. Das ist eine schlechte Entwicklung, da bin ich einverstanden, aber dies liegt ja gerade an der Finanz- und Wirtschaftspolitik der SVP.

Man könnte das auch als Argument für die Forderung der SVP interpretieren, die Finanzflüsse von den «abzockenden» Städten Richtung Land umzuleiten.
Meyer:
Ich war vier Jahre in der Finanzkommission. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Im interkantonalen Finanzausgleich schicken städtische Kantone Geld zu ländlichen Kantonen, was ich völlig richtig finde. Die Finanz- und Handelsplätze Genf oder Zürich mit ihren hohen Steuereinnahmen sollen Gebiete unterstützen, die eine auch geografisch schwierigere Lage haben. Das ist der Kern des Zusammenhalts der Schweiz. Darum haben wir immer sowohl für einen geografischen Lastenausgleich gekämpft wie für die Abgeltung von höheren Zentrumsleistungen.
Wermuth: Wenn die SVP anfängt, die Folgen des interkantonalen Steuerwettbewerbs zu kritisieren, ist ein Höchstmass an Heuchelei erreicht.

Vielleicht noch einmal zum grundsätzlichen Problem: Es gibt Mentalitätsunterschiede zwischen Stadt und Land. Das sieht man jetzt beim Impfen. Müsste die SP nicht mehr Sensibilität dafür entwickeln, etwa beim Schutz der Wölfe?
Wermuth:
Das stimmt nicht. Ich selber bin auf dem Land aufgewachsen und wir haben ja auch SP Sektionen in Kantonen wie Graubünden oder Wallis, wo das Thema sehr aktuell ist. Es ist falsch so zu tun, als gäbe es da nicht unterschiedliche Haltungen auch auf dem Land. Die unterschiedliche Impfquote hat auch mit dem Versagen der Kantone zu tun, Impfangebote gleichmässig anzubieten. Im Aargau muss man teilweise bis heute weit bis in die Zentren fahren, um sich testen und impfen zu lassen. Natürlich sind die dort lebenden Menschen bevorteilt. Es muss uns zu denken geben, dass die Impfquote gerade in stark SVP-dominierten Kantonen erschreckend tief ist. Die Impfquote ist nicht auf dem Land schwächer, sondern vor allem in stark rechts dominierten Kantonen in der Ost- und Zentralschweiz.
Meyer: Das Bild von urbanen Milieus mit null Bezug zum Land und Menschen, die nur alle zehn Jahre ihren Fuss in eine Stadt setzen, ist in dem Ausmass, wie es die SVP darstellt, an den Haaren herbeigezogen.
Wermuth: Das SVP-Papier ist im Wesentlichen eine Bastelei aus Trump und dem, was Sahra Wagenknecht für Deutschland analysiert. Das mag zwar spannend sein, hat aber einfach mit der Schweiz nichts zu tun. Da hat sich jemand im Land geirrt. Es stimmt bedenklich, dass die grösste Partei nicht mehr in der Lage ist, dieses Land zu verstehen.

Dann sehen Sie die Forderungen der SVP also relativ gelassen? Einiges ist Polit-Klamauk, etwa die Ausschreibung der Kantonshauptorte ...
Wermuth:
… immerhin eine originelle Idee …

… aber anderes hat Sprengpotenzial, etwa die Berechnung der Nationalratssitze auf der Basis der Wahlberechtigten statt der ständigen Wohnbevölkerung.
Meyer:
Auch damit setzt die SVP auf Spaltung. Sie will einen Viertel der Bevölkerung nicht als gleichwertigen Teil der Gesellschaft anerkennen, nur weil sie wegen der restriktiven Einbürgerungspolitik von rechts nicht stimmberechtigt sind. Sie zahlen auch Steuern und Beiträge an die Infrastruktur und sollen bei den Nationalratssitzen angerechnet werden.
Wermuth: Die SVP kopiert auch hier die USA. Seit Jahrzehnten ändern die Republikaner schamlos die Wahlgesetze, um sich selber zu bevorteilen. Das hat mit Demokratie nichts mehr zu tun. Es ist ein Ausdruck von Panik, kein ernsthafter Vorschlag.

Man hat den Eindruck, die SP nimmt den SVP-Angriff auf die Städte relativ gelassen.
Meyer:
Wir sind uns nichts anderes gewohnt. Die SVP versucht seit Jahren, mit solchen Manövern von ihren eigentlichen Zielen abzulenken. Diese dienen nicht dem Arbeiter auf dem Land oder dem Kleingewerbler mit einem Malerbetrieb in der Agglo, sondern ihren Freundinnen und Freunden am Paradeplatz. Die Coronakrise zeigt trotz der gegenwärtigen Zerreissprobe, dass nicht Spaltung uns weiter bringt, sondern Solidarität und Kooperation.
Wermuth: Ich verstehe, warum die SVP so reagiert. Die Krise hat gezeigt, wie weit sie gerade vom Gewerbe weg ist, das sie vorgibt zu vertreten. Das hat in der SVP-Zentrale Panik ausgelöst. Jetzt versucht sie, dies zu vernebeln. Unsere Antwort heisst: mehr Freiheit für alle durch bessere öffentliche Dienstleistungen und mehr soziale Sicherheit für alle und überall.

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105 Kommentare
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Andi Weibel
10.09.2021 21:26registriert März 2018
Ich finde es ja schon interessant, dass es die SP war, die sich während den Lockdowns letztes Jahr für die Unterstützung der Gewerbetreibenden eingesetzt hat, während sich die frühere Gewerbepartei SVP mit Händen und Füssen dagegen wehrte.
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Paul Badman
10.09.2021 20:57registriert November 2015
Die Schweiz ist interessant, erfolgreich und sympathisch wegen ihrer Vielfalt. Wer Vielfalt durch den Einheitstreichelglockenmarsch ersetzen will, hat wahrscheinlich schon das Land verfehlt.
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Linus Luchs
10.09.2021 20:52registriert Juli 2014
Ich befürchte, Meyer und Wermuth unterschätzen die Strategie der SVP. Mit keinem Wort erwähnen sie die Gesamterneuerungswahlen 2023. Diese sind das Ziel der SVP-Polemik. Es geht um den Gewinn von Ständeratssitzen in den ländlich geprägten Kantonen. Mit dem Feindbild "linksgrüne Schmarotzer-Stadt" sollen die nötigen Stimmen für SVP-Kandidaten gewonnen werden, die dann in der kleinen Kammer alles blockieren, was europäisch, sozial oder ökologisch angehaucht sein könnte. Wenn man dem Stammtisch auf dem Dorf zuhört, hat diese üble Strategie leider durchaus Potential.
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