Mit Simonetta Sommaruga und Ueli Maurer ziehen sich Ende Jahr zwei langjährige Bundesratsmitglieder zurück. Welche Folgen haben die beiden Rücktritte für das Gremium?
Adrian Vatter: Einerseits verliert die Landesregierung zwei Mitglieder mit grosser politischer Erfahrung. Andererseits bietet diese Doppelvakanz auch eine Chance: In den letzten Monaten und Jahren hat man gesehen, dass der Bundesrat als Kollegialgremium nicht mehr optimal gearbeitet hat. Der Teamgeist hat nicht mehr funktioniert, Dossiers wurden blockiert und die Zahl der Indiskretionen ist gestiegen in den vergangenen Monaten und Jahren. Gerade Letztere sind ein Gradmesser dafür, ob der Bundesrat funktioniert oder nicht. Denn Indiskretionen sind Ausdruck davon, dass das gegenseitige Vertrauen tief ist und sich die Bundesratsmitglieder eher als Konkurrenten denn als Kollegen sehen.
Reicht es angesichts dieser vielfältigen Probleme, wenn nur zwei Mitglieder ausgetauscht werden?
So einfach ist es nicht. Es gibt strukturelle Probleme, die auch nach den Rücktritten von Sommaruga und Maurer bleiben werden. Da ist zum Beispiel die starke Polarisierung in der Politik, die sich auch in den Bundesrat überträgt. Zudem bringen die sich zurzeit überlappenden Krisen das System an den Anschlag. Hinzu kommt die Konkurrenzsituation innerhalb der Freisinnigen – also zwischen Ignazio Cassis und Karin Keller-Sutter –, die am ehesten befürchten müssen, dass einer der beiden FDP-Sitze in Frage gestellt wird. Diese Aspekte erschweren zwar weiterhin eine gute Zusammenarbeit, doch zwei neue Personen können durchaus frischen Wind in die Regierung bringen.
Sie haben in Ihrem Buch «Der Bundesrat» ehemalige Bundesrätinnen und Bundesräte typologisiert (siehe Personenbox). Zu welchem Typ zählen Sie Maurer?
Eines vorneweg: Es handelt sich bei dieser Typologie um Vereinfachungen, einige wenige Bundesräte lassen sich deshalb keinem der sechs Idealtypen zuordnen. Gerade Ueli Maurer ist für mich jemand, der nicht eindeutig in eines der Raster passt. Man kann aber sagen, was er nicht ist: Maurer ist kein klassischer Konkordanzpolitiker, kein Intellektueller, kein Regent und auch kein Bürdenträger. Maurer ist aber populär im eigenen Lager, und er ist bis zu einem gewissen Grad ein Pragmatiker.
Lässt sich Sommaruga einfacher einem Typen zuordnen?
Für mich ist Bundesrätin Sommaruga umgänglich, verträglich, verantwortungsbewusst und stets auf der Suche nach einem Konsens. Gleichzeitig vertritt sie klar ihre politische Position. Im Bundesrat nimmt sie oft eine vermittelnde, parteiübergreifende Position ein. Ihr kollegialer Stil zeugt ebenfalls davon, dass Sommaruga eine typische Konkordanzpolitikerin ist, die im Bundesrat eine sehr wichtige Rolle eingenommen hat.
Ihr Rücktritt ist also ein grosser Verlust für die Landesregierung?
Auf jeden Fall. In erster Linie ist es ein Verlust für die SP. Sommaruga ist eine professionelle Bundesrätin, die einen schwierigen Spagat geschafft hat: Und zwar konnte sie sowohl die eigenen politischen Positionen vertreten als auch gleichzeitig integrales Mitglied einer Kollegialregierung sein. Diesen Anspruch hat sie sehr gut erfüllt. Deshalb müsste man bei den anstehenden Ersatzwahlen besonders Wert darauflegen, dass man umgängliche, verträgliche Persönlichkeiten wählt, die eben auch auf die politischen Gegner zugehen können. Machtbewusste Regentinnen hingegen täten dem Gremium weniger gut.
Welche Rolle spielt die Persönlichkeit der Kandidierenden bei Bundesratswahlen?
Gerade bei Exekutivwahlen spielt der Charakter eine wichtige Rolle. Die Bundesversammlung, welche die Bundesräte wählt, kennt die meisten Kandidierenden persönlich. Diese haben zwei Hürden zu überwinden: Die erste Etappe ist die Nomination durch die eigene Partei. Gerade in dieser Stufe ist das Kriterium der Verträglichkeit, der Umgänglichkeit sehr wichtig, weil dieser Entscheid durch die Fraktionskolleginnen und Fraktionskollegen gefällt wird. Personen, die eine Extremposition vertreten, haben es zudem deutlich schwieriger. Bei der eigentlichen Wahl durch die Bundesversammlung spielt dann nicht nur die Umgänglichkeit, sondern auch die Grösse des Herkunftkantons eine Rolle. Denn meist haben die Kandidierenden die Stimmen der Parlamentskollegen aus dem gleichen Kanton auf sicher.
Das heisst, eine umgängliche und eingemittete Politikerin aus dem Kanton Zürich oder dem Kanton Bern hat sehr gute Chancen, gewählt zu werden?
Genau, das zeigen unsere bisherigen Untersuchungen.
Was bedeutet diese Erkenntnis nun konkret für die anstehenden Ersatzwahlen?
Bei der SVP ist Albert Rösti tatsächlich so etwas wie die Idealbesetzung für die Nachfolge von Ueli Maurer. Rösti ist sehr umgänglich, freundlich, kommt aus einem grossen Kanton und ist kein polarisierender Hardliner. Bei der SP gibt es ebenfalls einige Personen, die diese Kriterien erfüllen: darunter Eva Herzog. Sie ist auch dafür bekannt, dass sie nicht am linken, sondern eher am rechten Rand der Partei politisiert und auch offen ist für bürgerliche Positionen. Das dürfte ihre Chancen weiter erhöhen.
Sie sprechen nur von SP-Frauen. Finden Sie es demnach gut, dass die SP-Parteileitung für ein reines Frauenticket plädiert?
Die Strategie der SP, auf ein reines Frauenticket zu setzen, ist nachvollziehbar. Schliesslich kann sich die SP damit im Hinblick auf die kommenden Wahlen klar als Frauenförderungspartei positionieren. Andererseits reduziert sie damit die Auswahl von eigenen potenziellen Kandidierenden um die Hälfte, was insbesondere einige ambitionierte SP-Politiker und ihre Anhängerschaft frustriert und zudem zu internen Konflikten führt.
Zum Beispiel Daniel Jositsch, der am Dienstag entgegen dem Wunsch der SP-Parteileitung als offizieller Kandidat ins Rennen stieg. Hat er Chancen?
Jositsch sichert sich mit dieser Ankündigung eine hohe Medienaufmerksamkeit im Hinblick auf den nächstjährigen Zürcher Ständeratswahlkampf. Er ermöglicht damit auch eine offene Debatte um die Geschlechtervertretung im Bundesrat. Seine Wahlchancen für den Bundesrat nehmen aber mit dieser Einzelaktion nicht zu.
Welche Rolle spielt das Alter der Kandidierenden?
Eigentlich keine, aber es gibt eine gewisse Tendenz. Bei der Wahl in den Bundesrat sind die Politikerinnen und Politiker im Durchschnitt Anfang 50. Gerade in den letzten Jahrzehnten hatten wir aber einige Ausnahmen: Rutz Metzler war bei ihrer Wahl 34, Alain Berset 39. Ich begrüsse die aktuelle Debatte darüber, wie sich die gesellschaftliche Vielfalt im Bundesrat beispielsweise mit der Wahl einer jungen Mutter oder eines jungen Vaters abbilden liesse. Es sollte aber nicht das entscheidende Kriterium sein.
Ist denn das Bundesratsamt kompatibel mit dem Elternsein? Oder anders gefragt: Kann man gleichzeitig ein gutes Bundesratsmitglied und eine gute Mutter oder ein guter Vater sein?
Das ist eine Frage, die nicht nur in der Politik diskutiert wird: Wie weit muss man in Spitzenpositionen bereit sein, familiäre Verpflichtungen hintanzustellen? Und auf welche beruflichen Anlässe kann man zu Gunsten der Familie verzichten? Andere Länder zeigen, dass die Vereinbarung von Spitzenamt und Familie möglich ist – es müsste also auch in der Schweiz möglich sein, wobei wir aufgrund der kleinen Ministerzahl schon eine überdurchschnittliche Belastung haben. Auf jeden Fall wären Kompromisse nötig. Anstatt viermal pro Woche geht eine Bundesrätin dann vielleicht nur noch einmal pro Woche an einen abendlichen Anlass. Aus meiner Sicht ist das Bundesratsamt also für junge Eltern durchaus machbar, aber es würde beträchtliche Abstriche verlangen – sowohl auf Berufs- als auch auf Familienseite.
Nach den Ersatzwahlen ist vor den Departementswechseln. Mit welchem Ausgang rechnen Sie?
Im Moment haben wir eine Vakanz bei zwei Schlüsseldepartementen – im Umwelt- und im Finanzdepartement. Das sind zwei sehr attraktive Departemente, deshalb gehe ich von einer grossen Rochade aus. Es wird voraussichtlich bis auf das Wirtschaftsdepartement potenziell überall Wechsel geben. Ich könnte mir vorstellen, dass Viola Amherd ins Umweltdepartement wechselt, das würde politisch sicher zu einer gewissen Beruhigung beitragen. Entscheidend wird sein, ob Alain Berset noch eine Legislatur anhängt. Wenn ja, dann könnte er ins Aussen- oder ins Finanzdepartement wechseln. Allerdings: Berset ist im nächsten Jahr Bundespräsident. Wenn er dann zugleich noch das Departement wechselt, ist das schon sehr anspruchsvoll. Ich könnte mir deshalb auch vorstellen, dass er im Innendepartement bleibt und Karin Keller-Sutter ins Finanzdepartement wechselt. Oder aber Berset wechselt ins Aussendepartement und Cassis wagt im Innendepartement einen Neustart und bringt dort seine Erfahrungen als Arzt ein.
Diese ständigen Departementswechsel sind immer mit zusätzlichem Aufwand verbunden.
Tatsächlich sind diese Einarbeitungsphasen nicht zu unterschätzen. Zudem fehlt es insbesondere wegen des jährlichen Wechsels des Bundespräsidiums an Kontinuität. Ebendiese wäre aber nötig, um die internationalen Beziehungen zu pflegen. Diese ausgesprochene Machtteilung in unserem System hat zwar Vorteile, aber eben auch offensichtliche Nachteile.
Was muss sich ändern?
Aus meiner Sicht braucht es ein Präsidialdepartement, dem ein Bundesratsmitglied mindestens zwei, besser vier Jahre am Stück vorsteht. Dieser Vorschlag stösst im Parlament allerdings auf Ablehnung, die Parteien befürchten, zu kurz zu kommen.
Mann kan halt ein Bundesratsjob nicht teilzeit betreiben.