Grüezi Herr Fehr, lange nicht mehr gehört, fehlt Ihnen der Medienrummel und die täglichen Interviews zur Covid-Situation?
Jan Fehr: Ganz weg ist der Medienrummel nicht. Ich gebe derzeit einige Interviews zu den Affenpocken. Aber ich bin froh, muss ich nicht mehr in dem Ausmass Auskunft geben wie noch vor ein paar Monaten.
Vorbei ist die Covid-Zeit trotzdem nicht. Derzeit stecken sich wieder vermehrt Leute an. Was ist passiert?
Mehrere Faktoren spielen eine Rolle. Viele denken nicht mehr an das Coronavirus oder wollen vermutlich nicht mehr daran denken. Lieber ignoriert man ein Kratzen im Hals, geht trotzdem arbeiten, lässt sich nicht mehr testen und verhält sich nicht mehr so, wie wir es in den letzten zwei Jahren gelernt haben. Es ist auch verständlich, dass die Leute genug haben. Dazu kommt, dass wir mit BA.4 und BA.5 zwei neue Untervarianten haben, die teilweise dem Immunsystem entkommen und somit deutlich ansteckender sind. Mit den aufgehobenen Massnahmen kann das Virus einfacher zirkulieren.
Wie ist die Situation in den Spitälern?
Die Zahl der Hospitalisierungen steigt, aber nicht markant. Es ist nicht besorgniserregend, aber wir müssen es im Auge behalten.
Wer landet noch im Spital?
In der Tendenz immer noch jene, die nicht geimpft sind. Selbst wer sich einmal angesteckt hat, ist nicht genug geschützt vor einer neuen Variante. Eine Ansteckung schützt nur über einen kurzen Zeitraum. Es ist nichts Dauerhaftes. Man kann es sich so vorstellen: Wenn Sie eine Hausmauer anmalen, müssen Sie mehrere Anstriche machen, bis die Farbe wetterfest ist. Das heisst, es braucht eine Grundimmunisierung und danach eine Auffrischimpfung, einen Booster also, damit das Immunsystem trainiert bleibt.
Aber wo liegt denn das Problem, solange die Spitäler nicht überlastet sind?
Es geht darum, möglichst zu verhindern, dass es zu schweren Verläufen kommt. In der Schweiz sind nach wie vor 30 Prozent der Bevölkerung ungeimpft. Wir wissen, dass eine Impfung aktuell nur sehr begrenzt vor einer Ansteckung schützt, aber sie schützt in den allermeisten Fällen vor einem schweren Krankheitsverlauf.
Lassen sich Ungeimpfte jetzt noch überzeugen?
Wir haben hier pro Tag ungefähr 100 Personen, die sich impfen lassen. Die meisten, weil sie reisen wollen.
Inwiefern unterscheiden sich die jetzt vorherrschenden Untervarianten BA.4 und BA.5 von den ersten Omikronvarianten und von Delta in Übertragung und Wirkung?
Beide gehören zur Omikron-Linie, sind aber ansteckender. Vor allem die Variante BA.5 kann das Immunsystem besser umgehen. Bis jetzt sieht es aber nicht danach aus, dass der Krankheitsverlauf schwerer ist. Die Varianten tauchten zuerst in Südafrika auf. Bisher konnte man dort nichts Besorgniserregendes beobachten. Das war ja bei der Delta-Variante in Indien ganz anders.
Was ist der aktuelle Wissensstand zu Long-Covid?
Laut unserer aktuellen Studie mit 1500 erholten sich von 100 Covid-Betroffenen nach sechs Monaten 25 nur teilweise. Bei sieben Personen war die Beeinträchtigung des Gesundheitszustands mittelschwer oder schwer. Nach zwölf Monaten gab es noch 16 Personen, die sich nicht gänzlich erholt hatten. Davon waren vier mittelschwer oder schwer betroffen. Die gute Nachricht ist: Es gibt im zeitlichen Verlauf bei einigen eine Verbesserung. Die schlechte aber: nicht für alle.
Was heisst das in absoluten Zahlen?
Dass in der Schweiz sehr viele Leute von Long-Covid betroffen sind. Darum braucht es in diesem Bereich weitere fortlaufende Studien, ähnlich wie zum Beispiel die Schweizer HIV-Kohortenstudie. Noch wissen wir vieles nicht. Auch, weil wir mit der Datenlage dem Virus naturgemäss immer hinterherhinken. Die aktuelle Long-Covid-Studie befasste sich mit der Beta- und Delta-Variante. Was die heute vorherrschenden Varianten bezüglich Long-Covid bedeuten, wissen wir erst in ein paar Monaten.
Wäre Ihrer Meinung nach Maskentragen wieder angesagt?
Nein, zu diesem Zeitpunkt nicht. Was es jetzt braucht, ist einfach: Corona nicht ganz vergessen, sprich, daran denken und sich entsprechend verhalten. Nicht, dass wir denselben Fehler machen wie die letzten zwei Sommer.
Was bedeutet das konkret?
Dass man sich testet, wenn man sich nicht gesund fühlt und man sich bei positivem Resultat auch zurückhält mit Kontakten. Und flexibel bleibt, wenn es kreative Lösungen erfordert. Zum Beispiel, wenn man ein Sommerfest geplant hat und Regen ansteht, könnte man das Fest draussen unter einem Zeltdach machen, anstatt es nach drinnen zu verlegen. Ausserdem sollten die Behörden vorausschauend bleiben, was beispielsweise im Kanton Zürich auch geschieht: Das Corona- und Referenzimpfzentrum wird auch den Sommer durch weiterbetrieben, um bei Veränderungen rasch reagieren zu können und für den Herbst vorbereitet zu sein.
Befürchten Sie einen ähnlichen Anstieg der Fallzahlen im Herbst, wie vergangenes Jahr?
Nein, die Ausgangslage ist ganz anders als damals. Praktisch die gesamte Schweizer Bevölkerung hatte schon auf irgendeine Weise Kontakt mit dem Coronavirus und Antikörper im Blut – sei es durch natürliche Infektion oder durch Impfung. Das sagt noch nichts darüber aus, wie gut sie vor einer weiteren Ansteckung geschützt sind, aber dass sich das Immunsystem schon einmal mit dem Virus oder Teilen davon auseinandersetzen musste, ist besser als gar nichts.
Braucht es einen zweiten Booster?
Der Präsident der nationalen Impfkommission, Christoph Berger, bezeichnet dies als wahrscheinliches Szenario. Demnach ist davon auszugehen, dass über 65-Jährige sowie Risikopersonen die Impfung auffrischen sollen. Meiner Ansicht nach sollten wir hier auch das Gesundheitspersonal mitdenken. Die grösste Debatte wird es wohl darum geben, ob man eine vierte Impfung auch der breiten Öffentlichkeit anbieten will.
Was ist Ihre Meinung dazu?
Man kann sich überlegen, dies anzubieten, für diejenigen, die wollen.
Was bringt eine erneute Impfung überhaupt?
Man muss sich immer überlegen, welches Ziel wir verfolgen und was die Impfung leisten kann. Es geht vorwiegend darum, schwere Krankheitsverläufe zu verhindern oder abzuschwächen. Ein guter Impfschutz kann dies tun. Gerade mit Aufkommen der Omikron-Variante haben wir gesehen, dass sich Infektionen mit aktuellem Impfstoff nur bedingt verhindern lassen. Aber wie gesagt: Das ist auch nicht das vordringliche Ziel.
Kommt es jetzt immer wieder zu neuen Varianten?
Global gesehen gibt es immer noch viel zu viele Ansteckungen. Das bedeutet, dass das Virus munter mutieren kann. Bringt man die Ansteckungszahlen runter, kann sich das Virus auch weniger replizieren und damit weniger mutieren. Wir dürfen also nicht nur für uns denken. Weltweit muss eine bessere Immunität aufgebaut werden, ohne dass wir dabei zu viele Opfer verzeichnen. Hierbei hilft die Impfung. Nur: die Industrienationen sind in der Pflicht, nicht bloss an sich zu denken, sondern auch besorgt zu sein, dass Impfstoff gerecht verteilt wird und für alle zugänglich ist.
Bis es so weit ist, werden wir uns also jedes Jahr ein paar Mal mit dem Coronavirus infizieren? Und uns impfen lassen?
Es ist wie mit einem Regendach. Am Anfang hatten wir keinen Schutz vor dem Regen. Dann mussten wir massive Massnahmen auffahren und haben kurzfristig eine Blache über unsere Köpfe gezogen. Das war der Lockdown – stickig und unangenehm. Das neuere Dach, an dem wir arbeiten, ist ein natürlicheres, das auf den Immunschutz baut – etwa vergleichbar mit einem Dach bestehend aus dichten Baumkronen im Regenwald. Jeder neue Regen, jede erneute Exposition gegenüber dem Virus oder Teilen davon – und dazu gehört auch die Impfung – führt dazu, dass wir Löcher im Dach ausbessern.
Regnen wird es immer wieder, daran können wir nichts ändern.
Aber es geht darum, dass wir nicht schutzlos den schlechten Wetterverhältnissen ausgeliefert sind und als Gesellschaft gut durchkommen.
Verhalten entsprechend: Solange man sich nicht gut fühlt, hält man sich zurück (zu seinem eigenen und dem Schutz anderer). Das kann 1 Tag sein oder auch länger.
Um was es sich genau handelt ist dabei doch mittlerweile wirklich egal?