Die türkische Provinz Şırnak grenzt an den Irak und Syrien. Aus dieser Region stammt ein Kurde, der vor etwas mehr als zwei Jahren zuerst mit dem Flugzeug nach Bosnien reiste. Danach gelangte er illegal in die Schweiz und stellte ein Asylgesuch. In seiner Heimat hatte er das Gymnasium absolviert. Seine Familie führt einen Landwirtschaftsbetrieb; wirtschaftlich läuft es gut.
Der Mann schilderte, er sei von der Polizei und im Militärdienst schikaniert worden, man habe ihn dort wiederholt als Terroristen bezeichnet. Auch deswegen habe er sich in sozialen Medien seit 2018 nicht mehr politisch geäussert. Seine Mitgliedschaft bei der kurdischen Partei HDP gab er auf.
In der Schweiz hingegen nahm er an politischen Protesten gegen die türkische Regierung teil. In sozialen Medien teilte er nun wieder Inhalte mit Kritik an Langzeitpräsident Recep Tayyip Erdogan. Nachdem die türkische Armee ein kurdisches Autonomiegebiet in Syrien bombardiert hatte, schrieb er: «Killer-Erdogan tötet Kinder.» Deshalb habe die Polizei im Haus seiner Familie in der Türkei eine Razzia durchgeführt.
Der Mann sagt, er habe sich mit diesen Aktivitäten ein Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung und Terrorpropaganda eingehandelt. Beim Staatssekretariat für Migration (SEM) reichte er Festnahmebefehle ein.
Das SEM wies sein Asylgesuch im vergangenen Mai ab. Es hegte Zweifel an den Unterlagen zur Strafuntersuchung. Sie seien erstens leicht fälschbar. Zweitens könnten bei korrupten Justizbeamten «echte» Dokumente mit falschem Inhalt bestellt werden. Unsere Zeitung hatte im letzten Jahr über diesen Asylschwindel mit Fake-Haftbefehlen berichtet. Das SEM vermutet: Der Mann hat bewusst eine Strafuntersuchung provoziert, um Nachfluchtgründe zu schaffen. Dies sei rechtsmissbräuchlich.
Der Kurde legte Beschwerde gegen das abgewiesene Asylgesuch ein. Der türkische Staat werfe ihm vor, sich in der Schweiz für die kurdische Arbeiterpartei PKK zu engagieren. Bei einer Heimkehr drohe ihm die Verhaftung. Die Türkei (auch die EU, nicht aber die Schweiz) stuft die PKK als Terrororganisation ein.
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Rekurs jetzt abgewiesen. Ein hängiges Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung und Terrorpropaganda bedeute nicht, dass jemand mit asylrelevanten Gründen verfolgt werde, schreibt es in einem am Freitag publizierten Entscheid. Die Frage, ob die eingereichten Dokumente authentisch sind oder nicht, kann für das Gericht deshalb offen bleiben. Es sieht in dem Kurden keinen politischen Aktivisten.
Entscheidend auch: Bei den genannten Delikten führen in der Türkei die Strafverfahren in nur zehn oder weniger Prozent zu Verurteilungen. Häufig fällen die Gerichte bedingte Strafen aus. Das Bundesverwaltungsgericht geht zudem davon aus: Türkische Strafgerichte sind sich bewusst, «dass gewisse ihrer Staatsangehörigen sich nach der Ausreise in ihrem Gastland nur deshalb in den sozialen Medien und an Kundgebungen politisch in Szene setzen, um sich Vorteile im Asylverfahren zu verschaffen und sich ein Aufenthaltsrecht in Westeuropa zu sichern».
Das Bundesverwaltungsgericht fällte einen sogenannten Koordinationsentscheid. Alle Richterinnen und Richter, die über Asylfälle urteilen, waren involviert. Die rechtliche Würdigung in dem Urteil gilt daher nicht nur für den Einzelfall. Das ist relevant, weil es auch um die Frage ging, ob eine Wegweisung zumutbar ist.
Gemäss der bisherigen Rechtsprechung war dies für Şırnak und die Nachbarsprovinz Hakkâri nicht der Fall, weil die Zivilbevölkerung überdurchschnittlich stark litt unter der gewaltsamen Konfrontation zwischen der PKK und der türkischen Armee. Die Zone ist zwar immer noch stark militarisiert. Weiterhin führen die Sicherheitskräfte Aktionen gegen die PKK durch. Doch die Zahl der Todesopfer ist gesunken, und Zivilisten geraten kaum noch zwischen die Fronten.
Es gibt ein untrügliches Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage: Die lokalen Tourismusorganisationen bemühen sich wieder verstärkt, die Berglandschaft in der besagten Region als Erholungsgebiet anzupreisen.
Das Thema mit den fingierten Haftbefehlen zu Asylzwecken beschäftigt auch die Politik. Der Bundesrat antwortete im Herbst auf eine Frage aus dem Parlament, Fälschungen würden gut erkannt. Illegal erworbene echte Dokumente könnten hingegen kaum als solche identifiziert werden. Wenn das SEM Missbrauch vermute, würden weitere Abklärungen gemacht und die Gesuche abgelehnt, falls sich der Verdacht bestätigt.
Diese Praxis widerspiegelt sich in der Anerkennungsquote von Asylgesuchen aus der Türkei. Sie ist nach einem Höchststand im Jahr 2021 (86,6 Prozent) auf mittlerweile 32,9 Prozent gesunken. Derzeit stammen am zweitmeisten Asylgesuche von türkischen Staatsangehörigen. Nur Afghaninnen und Afghanen bitten häufiger um Schutz. (aargauerzeitung.ch)