Mann fährt im Thurgau Mädchen an und streamt Tat: Opfer berichten, wie es ihnen heute geht
Ein Mann fährt zwei 15-jährige Mädchen an und zeichnet seine Tat in einem Livestream auf. Dies passierte am 11. September 2020 in Amriswil TG. Nun sprechen die beiden Opfer gegenüber SRF und erzählen, wie es ihnen heute geht.
Die Tat liegt inzwischen fünf Jahre zurück, doch die beiden mittlerweile erwachsenen Frauen leiden noch heute unter den Folgen. Eine von ihnen ist nie wieder Velo gefahren, die andere musste ihre Leichtathletik-Karriere aufgeben. Die Quartierstrasse, auf der sich der Vorfall ereignete, meiden beide bewusst.
Am Tag der Tat waren die beiden damals 15-jährigen Mädchen mit dem Velo auf einer Quartierstrasse unterwegs.
Der damals 28-jährige Täter erfasste die beiden Mädchen mit seinem Auto, das anschliessend nicht mehr fahrtauglich war. Da er die Tat live streamte, lässt sich der gesamte Tathergang aufzeigen – auch die beiden Opfer sahen sich das Video an. Eine von ihnen sagte, es habe sich für sie wie ein Videospiel angefühlt. «Wie er aus der Wohnung rennt, wie er mit lauter Musik Auto fährt. Als wäre er in einem Videospiel gefangen.» Sie sagte, es falle ihr schwer zu glauben, dass sie selbst die Person sei, die dabei durch die Luft geschleudert wurde.
Das erste Incel-Attentat der Schweiz
Recherchen zeigen, dass der Mann die Tat über Monate hinweg plante, darunter den Kauf eines Autos und von Waffen. «SRF Investigativ» kommt zum Schluss, dass es sich nicht um einen Unfall, sondern um das erste Incel-Attentat der Schweiz handelte. «Incel» steht für «involuntary celibate» – auf Deutsch «unfreiwillig enthaltsam».
«Die Informationen, die uns zu diesem Fall vorlagen, haben den Schluss damals zugelassen, dass die Incel-Ideologie ein mögliches Tatmotiv sein dürfte», sagt Patrick Jean, Mediensprecher des Bundesamtes für Polizei, gegenüber SRF. Dabei bringen junge Männer, die unfreiwillig sex- und beziehungslos leben, ihren Frust zum Ausdruck – manche online, andere durch reale Gewalt.
Frauen müssen gehorchen
Der Mann war in Online-Foren für Gleichgesinnte aktiv, ist arbeitslos, ohne Ausbildung und soziale Kontakte. In den Beiträgen der Mitglieder finden sich auch frauenfeindliche Inhalte. In den Incel-Foren herrsche grosse Wut, erklärt die Soziologin Veronika Kracher. «Die Wut in den Incel-Foren kommt von gekränkter Männlichkeit oder einem gekränkten Anspruchsdenken».
Der Täter hat ein Manifest auf Englisch verfasst. Darin heisst es unter anderem:
Der Soziologin Kracher zufolge sieht sich der Täter als vermeintlicher Verlierer der Gesellschaft und versucht, seine Rolle durch Gewalt gegen andere auszugleichen. «An der Sprache des Manifests sieht man, dass der Täter in menschenfeindlichen digitalen Räumen sozialisiert worden ist.» Ob er sich selbst als Incel bezeichnet, ist unklar; er selbst wollte keine Stellungnahme abgeben.
Zu 13,5 Jahren Haft verurteilt
Das Bezirksgericht Arbon verurteilte den Täter 2023 wegen versuchten Mordes zu 13,5 Jahren Haft. Statt in den normalen Strafvollzug kam er jedoch in eine geschlossene Psychiatrie. Bis heute gilt seine Tat als das einzige bekannte Incel-Attentat in der Schweiz. (fak)
