Fast drei Jahre lang hatte die Beschuldigte wegen dieses Vorfalls Ärger. Nun sass sie im kleinen Saal des Bezirksgerichts Lenzburg. Zur gleichen Zeit wurde ein Stockwerk tiefer im grossen Saal über das Schicksal des Ex-Luxusautohändlers Riccardo Santoro verhandelt. Auch in der kleinen Kammer im oberen Stock ging es um Autos, hauptsächlich um das der Beschuldigten.
An einem Samstag im Februar 2016 war die damals 49-jährige Frau aus der Region Lenzburg nach der Arbeit zum Lidl nach Hunzenschwil gefahren, um kurz einzukaufen. Auf dem Parkplatz war einiges los – Samstagnachmittag eben. Die Beschuldigte musste auf der Höhe des Haupteingangs anhalten, weil ein anderer Wagen aus einem Parkplatz kam. Um auszuweichen, setzte sie einige Meter zurück. Dabei passierte es: Im Rückspiegel sah sie plötzlich eine Frau. «Ich bremste aus Reflex», sagt die Beschuldigte vor Gericht. Die Frau sei darauf mit ihrem Begleiter, der sich später als Bruder herausstellen sollte, um das Auto herumgegangen.
Auf der Höhe der Fahrerin hätten die beiden ins Auto geschaut. Zu einem Wortwechsel kam es nicht. «Ich habe sie durch die Scheibe mit Handzeichen gefragt, ob alles ok sei und habe mich entschuldigt», sagte die Beschuldigte und zieht, um ihre Gesten von damals zu zeigen, die Schultern hoch und hält die Handinnenflächen nach oben. «Auf dem Weg zum Ladeneingang haben mir die beiden den Vogel gezeigt.»
Es blieb jedoch nicht beim Austausch von Gesten. Die Beschuldigte erhielt einen Strafbefehl. «Mangelnde Aufmerksamkeit beim Rückwärtsfahren» und «Führerflucht nach Verkehrsunfall mit Verletzten» waren die Anklagepunkte. Nach den Angaben der Frau hinter dem Auto war es zu einem Zusammenstoss gekommen, bei der sie sich eine Prellung am Ellenbogen zuzog und zwei Wochen lang arbeitsunfähig war. Die Rückwärtsfahrerin wurde per Strafbefehl zu einer Busse von 600 Franken verurteilt, mit den Gebühren und Polizeikosten kam ein Rechnungsbetrag von 1610 Franken zusammen.
Der Bruder der Frau hatte ausgesagt, dass seine Schwester vor Schmerz aufgeschrien habe, als sie mit dem rückwärts fahrenden Auto zusammenstiess. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so fest verletzt war», sagt die Autofahrerin vor Gericht. Für sie sei keine Kollision spürbar gewesen. Danach sei die angeblich verletzte Frau ja noch einkaufen gegangen. Erst nachdem sie sich zu Hause mit Familie und Bekannten besprochen hatte, meldete sie den Vorfall der Polizei. Im Kantonsspital Aarau liess sie ihren Arm untersuchen. «Es wurden keine Schwellungen oder Frakturen festgestellt», sagte der Verteidiger der Rückwärtsfahrerin.
Er vermutet ein Komplott. «Vielleicht hatte sie keine Lust, zu arbeiten.» Die Verwandten hätten sich abgesprochen – und dabei sei es zu Fehlern gekommen. Der Bruder hatte ausgesagt, dass er seine Schwester ins Spital begleitet hatte. Dabei war es gemäss den Akten der Ehemann, der nach der Arbeit mit seiner Frau ins Krankenhaus fuhr. Auch die Fahrerflucht sei nicht gegeben, zumal die Beschuldigte ja nach dem Vorfall ein paar Meter weiter parkiert habe und gleichzeitig mit dem angeblichen Opfer eingekauft habe. Die verletzte Frau, die vor Gericht als Zeugin hätte erscheinen sollen, war unentschuldigt abwesend.
«Ich kann zu meinen Fehlern stehen», sagte die Rückwärtsfahrerin zum Schluss. Doch in diesem Fall sei sie sich keiner Schuld bewusst. Und im Gegensatz zu Riccardo Santoro, dessen Prozess noch länger dauert, konnte sie an diesem Tag das Gerichtsgebäude als unbescholtene Frau verlassen. Gerichtspräsidentin Danae Sonderegger sprach sie frei von Schuld und Strafe. «Es ist ein nicht ganz klarer Fall», sagte sie. «Zum genauen Hergang verbleiben Zweifel.»