Antonio und Carolin (alle Namen geändert) hielten grosszügig Abstand voneinander vor dem Gerichtssaal in Aarau. Er tigerte in einem dunkelblauen Anzug durch die Gänge. Sie wartete in Blazer und mit Louis-Vuitton-Tasche neben sich im Wartesaal angespannt darauf, aufgerufen zu werden. Gegenstand des Treffens vor Gerichtspräsidentin Karin von der Weid: Der Brasilianer Antonio hatte Carolin im Februar dieses Jahres in ihrer Arztpraxis aufgesucht und soll sie bedroht haben. Dies, weil er der Meinung ist, dass Carolin seiner Frau über 43'000 Franken aus einem Mietverhältnis schulde. Dieser Vorwurf wird jedoch in einem zivilrechtlichen Verfahren separat behandelt.
Die Gerichtspräsidentin befragte zuerst Carolin, wie sie jenen Morgen im Februar erlebt habe. Diese erzählte, dass sie Antonio bis dahin nicht gekannt habe. An besagtem Morgen sei sie gerade am Empfang gewesen, als der 54-Jährige die Praxis betreten habe. «Er hatte mir im Vorfeld schon zwei Mails geschrieben, daher warnte ich meine Angestellten vor, dass dieser Mann mal plötzlich in der Praxis stehen könnte.» Ihre Vorahnung habe sich erfüllt. Antonio habe die Praxis betreten und Geld von ihr gefordert, welches sie angeblich seiner Frau schulde. «Er sagte mir, ich sei ein schlechter Mensch, er würde mich nicht in Ruhe lassen, bis er das Geld habe.»
Carolin rief daraufhin einen befreundeten Polizisten an, der zu diesem Zeitpunkt nicht im Dienst war. Dieser kam sofort vorbei und bat Antonio, die Praxis augenblicklich zu verlassen. Dies habe der 54-Jährige dann auch getan, aber nicht ohne der Ärztin vorher zu drohen: «Ich weiss, wo du wohnst.»
Die Gerichtspräsidentin wollte von Carolin wissen, wie lange die Szenerie gedauert habe. «In der Praxis selbst vielleicht fünf Minuten, aber er war sicherlich noch eine Stunde vor dem Gebäude.» – «Wie haben Sie sich in diesem Moment gefühlt, hatten Sie Angst?» Natürlich habe sie sich gefürchtet, antwortete Carolin fast ein wenig ungehalten. «Ich habe mir Sorgen um meine Patienten und um meine Angestellten gemacht. Wir sind nur Frauen in der Praxis.»
Am darauffolgenden Tag suchte Antonio die Privatadresse der Ärztin auf. Zu diesem Zeitpunkt war sie selbst zwar nicht anwesend, dafür waren aber ihre Eltern und ihre Kinder da. Antonio diskutierte mit ihrem Vater und verliess das private Anwesen wieder, nachdem er auch beim Vater erfolglos die Forderung nach den 43'000 Franken gestellt hatte.
Antonio selbst schilderte die Geschichte von einer ganz anderen Seite. Er habe nur die Adresse von Carolin für die Betreibung benötigt, da sie seiner Frau einen grossen Geldbetrag schulde. Mehrmals schweifte der Angeklagte bei seinen Ausführungen ab und erzählte von den Schulden anstatt von dem Tag, an dem er in der Praxis war. «Es sind auch andere Leute hinter der Lady her», erklärte der sichtlich aufgebrachte Mann.
Carolin wandte ihren Blick während seiner Ausführungen die meiste Zeit über zur Seite und schüttelte den Kopf. Antonio behauptete, dass er gar nie im Innern der Praxis gewesen sei. «Ich war am Eingang, die Frau sah mich durch die Glastüre, kam sofort auf mich zu und fing an zu schreien.» Patienten habe er keine gesehen, nur Carolins Arbeitskollegen. «Aber der Polizist war doch später auch da», so die Gerichtspräsidentin. «Ja, war er, aber ich frage mich halt schon, wieso sie ihn angerufen hat und nicht den offiziellen Notruf, wenn sie sich doch von mir so bedroht fühlte.» Was er, Antonio, mit seiner Anwesenheit habe erreichen wollen? «Dass sie zahlt.»
Carolin konnte freilich nichts mit dieser Art und Weise der Geldeintreibung anfangen. «Ich finde es schrecklich, dass man so vorgeht. So etwas geht in einem zivilisierten Land nicht.»
In seinem Schlusswort schlug Antonio ruhigere Töne an: «Es tut mir leid, wenn sie sich bedroht gefühlt hat. Ich lebe seit 1994 in der Schweiz und respektiere die Regeln dieses Landes. Aber wegen dieser Frau hat meine Frau jeden Morgen am Frühstückstisch geweint.»
Gerichtspräsidentin Karin von der Weid befand Antonio für schuldig. Sie verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 30 Franken, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von zwei Jahren. Dazu kommen eine Busse von 300 Franken und die Verfahrenskosten. Sie folgte damit dem Strafmass, welches der Staatsanwalt im angefochtenen Strafbefehl festgelegt hatte. Antonio nahm die Strafe enttäuscht entgegen. Er kündigte an, dass er die Busse zahlen werde, um sich danach voll und ganz auf den Zivilprozess über die Geldforderung zu konzentrieren.