137. Diese Zahl hat am Mittwoch einige Illusionen zerstört. Erstmals seit zwei Monaten befinden sich die laborbestätigten Corona-Fälle in der Schweiz im dreistelligen Bereich. Überraschend kommt diese Entwicklung nicht, sie hat sich seit Tagen abgezeichnet. Spätestens seit dem letzten grossen Öffnungsschritt am 19. Juni warnten Experten davor.
Das schlägt aufs Gemüt. An der Medienkonferenz des Bundesrats war die teilweise euphorische Stimmung der letzten Wochen verflogen. «Wir sind weiterhin gefordert», mahnte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Es war das indirekte Eingeständnis, dass die Disziplin in der Bevölkerung mit dem forschen Öffnungstempo nachgelassen hat.
Nun legt der Bundesrat teilweise den Rückwärtsgang ein. Neben einem Strauss an finanz- und wirtschaftspolitischen Massnahmen beschloss er am Mittwoch eine Verschärfung des Grenzregimes, mit Quarantäne bei Einreisen aus Risikogebieten. Kernstück aber ist eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr wie in den Nachbarländern.
Die Rufe danach waren in den letzten Tagen immer lauter geworden, von verschiedener Seite. Mehrere Kantone erwogen, eine Maskenpflicht einzuführen. Ein föderaler «Flickenteppich» aber wäre in der kleinräumigen Schweiz unsinnig, wie Gesundheitsminister Alain Berset einräumte. Der Bundesrat hatte keine Wahl, als von sich aus zu handeln.
Unverständlich ist, dass sie erst ab Montag gelten soll. Die sofortige Einführung wäre keine Hexerei, obwohl in Bevölkerung wie Regierung eine bizarre Maskenhemmung besteht. In Umfragen sind mehr als 70 Prozent für ein Obligatorium im öffentlichen Verkehr. In der Realität tragen keine sieben Prozent tatsächlich einen Gesichtsschutz.
Diese Diskrepanz zeigt schonungslos die Grenzen der Eigenverantwortung. Man weiss, was richtig wäre, und macht es trotzdem nicht. Ein Grund dafür mag die allgemeine Corona-Sorglosigkeit vor allem in der Deutschschweiz sein. Eine Rolle spielt wohl auch eine Art umgekehrter Gruppendruck: Warum ich, wenn die anderen auch nicht?
Beim Bund kommt die Kommunikation zu Beginn der Pandemie hinzu. Damals hatten Alain Berset und Daniel Koch den Schutzeffekt der Masken nach Kräften heruntergespielt. Die Absicht war gut, man wollte eine Panik vermeiden, als die Verfügbarkeit auf dem Nullpunkt war. Das Ergebnis aber war schlecht, die Bevölkerung erhielt falsche Signale.
Masken schützen sehr wohl. Für diese Erkenntnis braucht es keine Studien. Im Fernen Osten weiss man das seit Jahrzehnten. Alain Berset aber hat diese Erkenntnis standhaft ignoriert. Es existiert kein Foto, auf dem der höchste Gesundheitspolitiker des Landes eine Schutzmaske trägt. Berset war kein Vorbild, eher ein zweiter Donald Trump.
Nun hat sich der Bundesrat angesichts der Macht des Faktischen dazu durchgerungen, seinen ursprünglichen Fehler zu korrigieren. Besser spät als nie? Hoffentlich nicht zu spät! Denn der öV ist nicht die einzige Baustelle, und noch nicht einmal die Schlimmste, wenn man die Häufung der Corona-Fälle in den Clubs bedenkt. Sie sind eigentliche Hotspots.
Der Bundesrat nimmt bei diesem Thema die Kantone in die Pflicht. Zürich hat gehandelt und die Vorschriften verschärft. Insgesamt aber wirken die Kantone in der Coronakrise hoffnungslos überfordert. Sie bieten geradezu Negativwerbung für den Föderalismus. Im Krisenfall schiebt man die Verantwortung offenbar noch so gerne nach Bern ab.
Grund zur Panik besteht nicht. Trotz der steigenden Fallzahlen befindet sich die Schweiz (noch) nicht in einer zweiten Welle. Aber Euphorie ist nicht mehr angebracht. Unsere Nachbarländer scheinen die Krise besser im Griff zu haben, auch Frankreich und Italien. Es ist zu befürchten, dass der Bundesrat keine ruhigen Sommerferien haben wird.