Bei diesem Titel erleben einige einen regelrechten Adrenalinschub, lechzen und sabbern schon ungeduldig nach der Kommentarspalte. Endlich können sie sich über diese angeblich gut integrierten «Shipis», die ihnen gefühlt überall den Doppeladler in die Fresse halten, auskotzen.
Der Anlass zu diesem Reflex? Die Berichterstattung über einen mutmasslichen Mord an einer Albanerin durch ihren ebenfalls albanischen Ehemann. In den Kommentarspalten liessen sich viele darüber aus, wie rückständig die albanische Gesellschaft doch sei.
Das Leid und Martyrium der betroffenen Frauen und das Versagen unserer Gesellschaft, Frauen vor solchen Verbrechen zu schützen – worum sich der Diskurs unbedingt drehen müsste –, rücken in den Hintergrund.
Dass es wichtig ist, über den Ursprung der in der albanischen Community teils verbreiteten sexistischen und frauenfeindlichen Gewohnheiten zu sprechen, habe ich in meiner publizistischen Arbeit oft thematisiert.
Drei Jahre danach darf ich verkünden: mit Erfolg!
Etliche Beschimpfungen, Dickpics, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen später hat sich endlich etwas getan in der albanischen Community: Wir sprechen offen und unmissverständlich über häusliche Gewalt in unseren Reihen und benennen on- wie offline die schlechten Albaner.
Dies ist lobens- und bewundernswert von der albanischen Community. Denn scrollt man jeweils zu den Kommentarspalten unter den über Femizid berichtenden Artikeln, erkennt man schnell, welchem Rassismus wir Albanerinnen und Albaner in der Schweiz nach wie vor ausgesetzt sind.
Doch nicht nur das.
«Die männliche Unterdrückung der Frau» sei «ebenso verwerflich» wie die «Hinnahme dieser Unterjochung durch die Frau», heisst es in einem kürzlich veröffentlichten Kommentar im Magazin des «Tages-Anzeigers».
Wir schreiben das Jahr 2022 (noch) und Frau soll sich durch die «Hinnahme ihrer Unterjochung» laut Duden ebenso schlecht, unmoralisch und daher tadelnswert verhalten wie der die Frau unterjochende, in diesem Fall mutmasslich mordende Mann!
Und weil diese Erkenntnis so unglaublich wichtig ist, lässt der «Tages-Anzeiger» den Kommentar seiner Kosovo-stämmigen Kolumnistin gleich noch auf Albanisch übersetzen.
Hier ist gar die Rede von der «verachtenden Hinnahme dieser Versklavung» («pranimi i përbuzsshëm i këtij robërimi»), damit auch jede von Gewalt betroffene Albanerin in der Schweiz verstanden hat: Heul' leise, du Bitch! Willst es ja nicht anders. Schliesslich trägst du dieselbe Verantwortung für deine Unterdrückung wie der dich unterdrückende Mann.
Die Betroffenen wissen genau, mit welcher Verachtung ihnen da draussen begegnet wird, und tun eben genau das:
Sie heulen leise. So, dass sie keiner hört.
Es ist allgemein aus der Praxis erwiesen und bekannt, dass Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind, sich nur schwer – wenn überhaupt – aus einer solchen Gewaltspirale befreien können.
Wer noch nie dem eigenen Kind die Tränen aus dem Gesicht gewischt und es getröstet hat, weil es zuvor mitansehen musste, wie man geschlagen wurde, weiss nicht, was es heisst, in einem solchen Gewaltzyklus gefangen zu sein und wie schwierig es ist, sich daraus zu befreien.
Nicht das Verhalten der Gewalt ausgesetzten Frau und damit der «Hinnahme ihrer Unterjochung» ist verwerflich und zu verachten. Der Frau eine Mitschuld für ihr Leiden zuzuschreiben, das ist verwerflich und in höchstem Masse zu verachten!
Anstatt Opfer-Täter-Umkehr zu betreiben oder rassistische Kommentare zu schreiben, müsste man endlich einen Schritt weiter gehen und sich in der Schweiz folgende Fragen stellen:
Wenn eine solche Aussage, die das Verhalten des Opfers, mit dem des Täters gleichstellt, in der Schweiz salonfähig ist, wie sieht es dann in unseren Polizeirevieren und Gerichtssälen aus?
Welchen Vorurteilen sind von Gewalt betroffene Frauen in der Schweiz ausgesetzt, wenn sie Anzeige bei der Polizei erstatten? Vorausgesetzt, ihnen gelingt überhaupt dieser wichtige Schritt.
Welche Hürden müssen betroffene Frauen in der Schweiz überwinden, wenn sie mehrere Anläufe brauchen, um den eigenen Ehemann, den Vater ihrer eigenen Kinder anzuzeigen?
Warum können Frauen, die es endlich einmal geschafft haben, ihr Recht auf ein gewaltfreies Leben einzufordern, ihre Polizeianzeige wieder sistieren und somit rückgängig machen? Und das, obwohl häusliche Gewalt in der Schweiz seit bald 20 Jahren ein Offizialdelikt ist?
Im schlimmsten Fall wird den Frauen dieser Rückzug zum Verhängnis. Spätestens dann, wenn der Mann wieder zuschlägt.
Welchem Rassismus sind von Gewalt betroffene Albanerinnen in der Schweiz ausgesetzt, wenn sie den Schritt wagen, ihre albanischen Ehemänner bei der Polizei anzuzeigen?
Frauen, die trotz ihres Martyriums ihrer Arbeit nachgehen, oder gar Karriere machen, sich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmern – ohne, dass wir auch nur den Hauch einer Ahnung davon haben, was sie gerade zu Hause durchmachen müssen, sind starke Frauen!
Wir hingegen sind die schwache Gesellschaft.
Schwach, weil wir oft nicht hinschauen und es den betroffenen Frauen viel zu schwer machen, sich gegen Unterdrückung und Gewalt zur Wehr zu setzen.
Mit unseren Vorurteilen, unserer Ignoranz und nicht zuletzt unseren Gesetzen.
Sind sie älter, so treten sie in die Fussstapfen ihrer Väter. Und geben zu Hause den Tarif durch. Die Frauen haben nichts zu sagen.
Das ist meine allgemeine Meinung.
P.S. Im Artikel werden soviele Fragen aufgeworfen, dass eine geordnete Diskussion nicht möglich ist.
Ja, ich habe Vorurteile.