«Er hat mich gefoltert» – Das ist Inas* Geschichte über häusliche Gewalt
Ina* verzieht angeekelt das Gesicht. Sie will den Mann, der sie drei Jahre lang durch die Hölle gehen liess, nicht ihren «Ex-Freund» nennen. Obwohl Kavish* und sie gegen aussen eine Liebesbeziehung führten. Eine Beziehung, die hinter verschlossenen Türen von Angst und Gewalt geprägt war. Ina sagt:
Anders könne man das nicht beschreiben.
«Verliebt» nach erstem Treffen
2021. Ina ist 24 Jahre alt, lebt in ihrem Heimatland Indien und hat einen festen Freund, als sie Kavish kennenlernt. Die beiden verstehen sich gut. Nach ihrem ersten Zusammentreffen sagt Kavish ihr: «Ich glaube, ich verliebe mich in dich.»
Ina reagiert überfordert. «Er kennt mich doch gar nicht», denkt sie. Und sagt ihm: «Wir können Freunde sein.» Kavish stimmt ihr zu. Versucht jedoch noch an demselben Abend, sie zu Sex zu überreden. Ina lehnt ab. Trotzdem schafft er es, sie zu küssen und zu begrabschen.
Wenige Monate später ist Ina von ihrem Freund getrennt und in einer Beziehung mit Kavish. Wie konnte das passieren? Diese Frage quält Ina schon lange. Denn sie findet keine Antwort darauf. Sie hat Gedächtnislücken. Über allen Erinnerungen hängt ein Nebel der Verwirrung. Das Einzige, was sie weiss, ist: «Ich konnte ihm nicht entkommen.»
Es beginnt kaum merklich
Das erste Gefühl, das Ina gegenüber Kavish empfindet, ist nicht Zuneigung oder Angst, sondern Mitgefühl. Ina sagt:
Schon in den ersten Monaten der Beziehung ist Kavish aufbrausend, gemein, feindselig. Die Schuld dafür gibt er Problemen bei der Arbeit oder seinem Trauma, ohne Mutter aufgewachsen zu sein. Das trifft bei Ina einen Nerv, da ihre Mutter dieses Schicksal mit Kavish teilt. Sie sagt:
Über die ganze Beziehung hinweg fühlt Ina sich ihrem Freund gegenüber schuldig. Wieso genau, kann sie nicht richtig in Worte fassen. Kavish habe gut reden können. Auf sie einreden können. Schon zu Beginn der Beziehung warf er Ina beispielsweise vor, seine Wohnung als «Rattenloch» beschimpft zu haben. «Das stimmte überhaupt nicht. Und trotzdem brachte er mich dazu, mich mehrfach dafür zu entschuldigen.»
Er sei in seinen Anschuldigungen so überzeugend und so hartnäckig gewesen, dass sie das Vertrauen in ihre eigene Wahrnehmung und ihre eigenen Erinnerungen verlor. Ganz langsam. Kaum merklich.
In dieser Schilderung erkennt Claudia Wyss bereits das erste Anzeichen für häusliche Gewalt. Wyss ist Leiterin der Anlaufstelle gegen Häusliche Gewalt (AHG) im Kanton Aargau und arbeitet seit vielen Jahren mit Opfern sowie Tätern zusammen. Daher weiss sie: «Häusliche Gewalt beginnt häufig nicht mit Schlägen, sondern mit psychischer Gewalt. Also mit Abwertung, Beleidigungen, indem man das Gegenüber klein macht oder dessen Wahrnehmung infrage stellt.» Dieser Vorgang geschehe meist so langsam und subtil, dass es für die Opfer nur schwer zu fassen sei.
Auch Ina weiss nicht, wie ihr im ersten Jahr ihrer Beziehung mit Kavish geschieht. Sie konzentriert sich auf Anderes: die Bewerbung auf eine Universität in Deutschland. Kavish überredet sie dazu, eine Uni zu finden, in der sie beide aufgenommen werden, sodass sie zusammen nach Deutschland ziehen können. Ina kümmert sich um alles: Visum, Wohnung, Aufnahme an der Universität.
Kurz vor der Abreise macht Kavish mit ihr Schluss. Und verlangt gleichzeitig von ihr, dennoch mit ihm in Deutschland zusammenzuleben – mit getrennten Schlafzimmern. Ina solle aber mehr für die Wohnung bezahlen. Das sei nur fair so. Sie habe schliesslich schon einen Job in Deutschland organisiert. Er noch nicht.
Ina will das nicht. Die beiden geraten in einen Streit. Daraufhin ohrfeigt Kavish sie zum ersten Mal und verdreht ihr die Hände. Ina trägt einen verstauchten Daumen davon. Und tiefe Angst. Angst davor, nochmals «Nein» zu sagen. Und so zieht sie im Sommer 2022 mit Kavish nach Deutschland. Auch wenn sie das gar nicht möchte.
Der Körper rebelliert
«Ich war immer gut in der Schule», sagt Ina. Doch in Deutschland hat sie plötzlich schlechte Noten. Die Schuld dafür gibt sie sich selbst. Dass Kavish der Grund für ihre Konzentrationsschwierigkeiten und Erschöpfung sein könnte, will sie nicht wahrhaben. Auch wenn sie sich drei Jobs sucht, um möglichst wenig zu Hause zu sein. Auch wenn sie jeden Abend vor ihrem Häuserblock steht, in den elften Stock hinaufschaut und sich fragt, welches Drama sie heute wohl erwarten wird. Und auch wenn ihr Körper anfängt, zu rebellieren. Immer öfter ist sie krank, hat Fieber und Magenbeschwerden.
In Deutschland nimmt Kavishs Gewalt zu. Kleinigkeiten können ihn in Rage bringen. Wenn ihm Inas gekochtes Essen nicht schmeckt. Oder wenn sie sich aufgrund seiner ständigen Kritik weigert, für ihn zu kochen. Wenn sie sich mit Arbeitskollegen treffen möchte. Oder wenn sie nicht mit ihm schlafen möchte.
Ina sagt:
Entweder redet Kavish so lange auf sie ein, bis sie einknickt – weil es einfacher ist, ihm zu geben, was er will, als gegen die Beschuldigungen anzukämpfen. Oder er jagt ihr Angst ein, rastet aus, schreit auf sie ein, zertrümmert Gegenstände, wirft ihr gekochtes Essen in den Müll.
Abstumpfung und Todesangst
Nach Monaten dieses «Terrors», wie ihn Ina nennt, stumpft sie ab. Also wird Kavish noch grausamer. Er fängt an, sie zu ohrfeigen, zu schlagen, zu schubsen, zu treten, zu würgen. Und ein Jahr, nachdem die beiden nach Deutschland gezogen sind, hat Ina erstmals Angst um ihr Leben.
Kavish wirft ihr vor, ihn zu betrügen. Ina fragt, was er meine. Er habe doch selbst Schluss gemacht. Kavish antwortet mit seinen Fäusten. Ina versucht, zurückzuschlagen. Das passt ihm überhaupt nicht. Er würgt sie, nimmt ihren Kopf in die Hände und rammt ihn gegen die Hauswand.
Ina bricht am Boden zusammen. Kavish stürzt sich auf sie, presst seine Knie auf ihre Brust und pinnt sie auf den Boden. Dann sagt er ihr:
Ina hat Todesangst. Sie kann sich nicht wehren, ringt nach Luft. Ihr ganzer Körper schmerzt. Ganz besonders ihr Kopf. Als er von ihr ablässt, will sie die Polizei rufen. Doch er nimmt ihr das Handy weg. «Ich muss ins Krankenhaus», fleht Ina ihn an. Doch Kavish findet, sie übertreibe. «So schlimm habe ich dich gar nicht geschlagen.» Und sowieso habe sie es verdient, wenn sie ihn betrüge.
Ina schafft es, aus der Wohnung zu flüchten. Mitten in der Nacht. In einem öffentlichen Park weint sie ihr Herz aus. Und kehrt danach zurück in die gemeinsame Wohnung. Weil sie nicht weiss, wohin sie sonst gehen soll. «Ich hatte keine Familie, keine wirklichen Freunde in Deutschland. Ich fühlte mich ausgeliefert.»
Zurück Zuhause entschuldigt sich Kavish. Verspricht, das käme nie wieder vor. Aber es stimmt nicht.
Warum ist sie geblieben?
Die Frage, die sich die meisten Opfer von häuslicher Gewalt anhören müssen, ist: Warum bist du nicht gegangen? Ina sagt, sie habe fliehen wollen. Aber nicht gekonnt. Zu gross sei die Angst gewesen. «Ich fühlte mich wie in Geiselhaft.» Wo hätte sie vor ihm sicher sein können? Woher die Kraft für eine Flucht hernehmen sollen?
Expertin Claudia Wyss weiss, dass es für Aussenstehende oft schwer zu begreifen ist, weshalb ein Opfer sich nicht aus der Situation löse. Aber zu Gehen sei aus sehr vielen verschiedenen Gründen schwer. Für Frauen mit Migrationshintergrund ganz besonders. Ihnen fehle häufig ein unterstützendes soziales Umfeld, Sprachkenntnisse, das Wissen über Hilfsangebote. Hinzu käme häufig eine finanzielle Abhängigkeit vom Täter.
Doch selbst wenn all diese Schwierigkeiten nicht gegeben seien, könne es sich für Opfer von häuslicher Gewalt so anfühlen, als könnten sie den Berg an Arbeit, der bei einer Trennung auf sie zukommen würde, nicht bewältigen. Wyss sagt:
Auch Inas Körper ist am Ende seiner Kräfte. Nicht nur wegen der Schläge und ständigen Angst. Sie leidet auch unter chronischem Schlafmangel, weil Kavish angefangen hat, sie nachts zu überfallen, um sich von ihrem Körper zu nehmen, was er möchte. Ina sagt: «Die Leute reden immer darüber, dass man Grenzen setzen muss, Nein sagen muss. Aber was, wenn diese Grenzen nicht respektiert werden? Was machst du dann?»
Ihre Antwort auf diese Frage ist es lange, die Gewalt herunterzuspielen. Sich in die Arbeit und ins Studium zu stürzen. Die Verletzungen unter dicker Kleidung zu verstecken. Zu verdrängen, was Kavish ihr antut. Seine Entschuldigungen anzunehmen.
Betroffene Männer können sich an die Anlaufstelle Zwüschehalt oder an das Männerbüro Zürich wenden.
Bei Straftaten im Ausland können Schweizer Staatsangehörige die Helpline des EDA kontaktieren: +41 800 24 7 365.
Brief an sich selbst
Anfang 2023 verschlechtern sich Inas Gesundheitszustand und ihre Leistungen an der Uni rapide. Als sie eine wichtige Prüfung nicht besteht, beginnen sie Albträume und Panikattacken zu quälen. Also sucht sie einen Psychologen auf. Diesem erzählt sie nicht, dass für sie jeder Tag ein Überlebenskampf ist. «Aber irgendwie hat er gemerkt, dass ich Zuhause nicht sicher bin.»
Der Psychologe gibt Ina die Kontakte von Frauenhäusern, doch sie meldet sich nicht. Sie hat Angst, dass man ihr als Ausländerin nicht glauben wird.
Im April 2023 findet sich Ina wieder verprügelt und nach Luft ringend auf dem Boden, mit Kavishs Knie auf ihrer Brust. Mit letzter Kraft keucht sie: «Ich liebe Dich», auch wenn sie das nicht so meint. In der Hoffnung, so überleben zu können.
Es funktioniert. Kavish lässt von ihr ab. Entschuldigt sich. Erklärt ihr aber gleichzeitig, weshalb sie an seinem Ausraster selbst Schuld trägt.
In dieser Nacht schreibt Ina einen Brief an sich selbst, in dem sie beschreibt, was sie gerade überlebt hat. Damit sie es nicht vergisst. Oder Kavish ihr einreden kann, dass das Ganze «gar nicht so schlimm» gewesen sei.
In ihrem Brief schwört sie sich: Diesmal verzeihe ich Kavish nicht. Und in der nächsten Sitzung erzählt sie ihrem Psychologen, was sie Zuhause durchstehen muss.
Flucht in die Schweiz
Mit ihrem Psychologen schmiedet Ina einen Fluchtplan. Dieser sieht so aus: Ina bewirbt sich an einer Schweizer Universität, um dort ihre Masterarbeit zu schreiben. Daneben sucht sie sich einen Job in der Schweiz. Kavish darf sie nichts davon erzählen. Sie muss nur noch durchhalten, bis sie beide im Sommer 2024 ihre Vorlesungen abgeschlossen haben.
Im August 2024 ist es so weit. Kavish hat bereits einen Job in einer anderen Stadt ergattert, wo er seine Masterarbeit schreiben wird. Sein Umzug steht bevor. Kavish geht davon aus, dass Ina nachkommen wird. «Ich liess ihn im Glauben, ich hätte nichts gefunden. Das gefiel ihm. Er fühlte sich überlegen», sagt Ina. Ende August verlässt Kavish die gemeinsame Wohnung. Mit den Abschlussworten:
Aber Ina entkommt. Im Oktober 2024 beginnt sie ihr Studium an einer Schweizer Uni. Sie ist endlich frei. Und glücklich. Allerdings nicht lange.
In Sicherheit aber auf dem Tiefpunkt
Jetzt, wo Ina in Sicherheit ist, holen sie die Erinnerungen an die überlebte Gewalt ein. Erinnerungen, die sie komplett verdrängt hat. Die Spuren in ihr hinterlassen haben.
Einerseits körperliche Spuren: In der Notaufnahme im Spital findet Ina heraus, was der Grund für ihr ständiges Fieber ist – die sexuell übertragbare Krankheit Hepatitis B. Ina geht davon aus, dass Kavish sie damit angesteckt hat.
Andererseits hat die Gewalt psychische Spuren hinterlassen: Plötzlich kann Ina ihren Alltag nicht mehr bewältigen. Sie schafft es nicht mehr aus dem Bett. «Es fühlte sich an, als wäre mein Körper eine Tonne schwer.» Sie hat Flashbacks von Übergriffen. Muss sich schmerzhaft eingestehen:
Als zu alledem ein kleiner Rückschlag in ihrer Karriere kommt, will sich Ina das Leben nehmen. Als sie überlebt, nimmt sie ihre Psychotherapie wieder auf.
Neue Kraft für eine Anzeige
Ein Jahr ist inzwischen vergangen, seitdem Ina entkommen ist. Heute sagt sie:
Um die Tage zu überstehen, nimmt sie Antidepressiva und Schlafmedikamente ein. Neben einer Psychologin besucht sie regelmässig eine Selbsthilfegruppe für Opfer von häuslicher Gewalt. «Die Gruppe hilft mir, zu wissen, dass ich nicht die einzige bin, der so etwas passiert ist», sagt Ina.
Mit ihrer gewaltgeprägten Vergangenheit ist sie auch in der Schweiz nicht allein. Seit 2009 wertet die Polizei Straftaten im häuslichen Bereich separat aus. Seither ist die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten kontinuierlich gestiegen. Zwischen 2023 und 2024 um 6,1 Prozent. Von einer Zunahme von häuslicher Gewalt zu sprechen, ist gemäss Expertin Claudia Wyss jedoch schwierig. Es könne auch sein, dass aufgrund von Sensibilisierung mehr Fälle gemeldet würden. Die Dunkelziffer schätzt Wyss als hoch ein.
Ina will den Frauen, die dasselbe durchmachen, wie sie einst, sagen:
Es sei zwar schwer, sich zu lösen und zu heilen. Aber es lohne sich, um wieder ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Die Sicherheit, die Ina in der Schweiz finden konnte, gab ihr die Kraft, sich gegen das, was Kavish ihr angetan hat, zu wehren. Im April 2025 erstattete sie Anzeige gegen Kavish. Mit einem Brief an die Polizeibehörden jener Stadt, in der er sie gepeinigt hatte. Nun muss sie abwarten, was passiert.
Dieses Abwarten findet Ina unerträglich. Sie sagt: «Ich brauche das Wissen, dass das, was er mir angetan hat, Konsequenzen hat.» Ob es das haben wird, hängt davon ab, ob die Strafbehörden der Meinung sind, dass Ina ausreichende Beweise für die Gewalt vorweisen kann. Etwas, das viele Opfer von häuslicher Gewalt nicht können. Gegenüber watson kann Ina Arztberichte und Chatverläufe zeigen, welche die Gewalt belegen. Jetzt muss Ina hoffen, dass diese Dokumente vor Gericht ausreichen werden.
*Name zum Persönlichkeitsschutz geändert.
