Diese Zeilen schrieb Jonny am 5. April und postete sie auf Facebook. Sie machen neugierig. Ein kurzer Blick auf sein Profil zeigt: Jonny ist jung, scheint gut vernetzt, hat viele Freunde … Warum hat er sich freiwillig für ein Leben ohne Dach über dem Kopf entschieden? Ein Treffen.
Dem 24-jährigen Zürcher, der eigentlich Jonathan heisst, scheint es gut zu gehen. Mit wachen grünen Augen beantwortet er Frage um Frage. «Ja, ich bin obdachlos», sagt Jonny ohne Umschweife. Die Gründe dafür seien vielseitig, ideologisch einerseits, finanziell andererseits. «Der Moment, an dem wir sesshaft geworden sind, ist Ursache für so viele Probleme in unserer Gesellschaft» sagt Jonny. «Mit der Sesshaftigkeit begannen wir, Dinge zu besitzen – ein Haus, Land oder Tiere.» Er will weg von Besitz und Sesshaftigkeit, erklärt der Zürcher.
Aufgewachsen ist Jonny in Zürich. Er machte eine Lehre als Koch – mehr seinen Eltern zuliebe als aus persönlicher Begeisterung. Als zu strukturiert, zu einengend empfand er den Job. Einige Jahre vergehen. Jonnys Freiheitsdrang wird grösser. So gross, dass sich Jonny vor zwei Monaten, nach einem Aufenthalt in den USA, gegen eine Wohnung entschieden hat. «Als ich zurückkam, war das Geld knapp. Da habe ich mich entschieden, lieber Geld zu sparen, anstatt es für eine Wohnung auszugeben», sagt der 24-Jährige. Es sei ein Experiment, ein Ausprobieren. Wie lange er das durchzieht? Das weiss Jonny nicht. Doch er scheint sich in die in seinen Augen neu gewonnene Freiheit verliebt zu haben. «Eine Wohnung nimmt dir so viele Freiheiten. Sie ist eine enorme Komfortzone und macht dich lazy.» Jonny wollte raus aus dieser Komfortzone. Und dafür nimmt er vieles in Kauf.
In manchen Nächten schläft Jonny unter einer Brücke. «Ich habe ein ruhiges Plätzli gefunden. Da fühle ich mich wohl.» Manchmal übernachte er bei Freunden. Als Schmarotzer sieht sich Jonny aber nicht. Eigenständigkeit sei ihm wichtig. Er wolle nicht von anderen abhängig sein. Und doch sei er froh, ab und zu auf weichem Untergrund zu schlafen. «Viele Leute bieten mir ihre Wohnung an, das schätze ich sehr. Man kommt sich so auch näher.»
Es fällt nicht ganz einfach, Jonny zu verstehen. Hätte er nicht übergangsweise bei seinen Eltern übernachten können, wenn es die Geldprobleme gewesen wären, die ihn daran hinderten, in eine Wohnung zu ziehen? Doch, hätte er, beteuert Jonny. «Aber das wollte ich nicht. So wäre ich nur wieder von jemandem abhängig gewesen.»
Unabhängigkeit und Freiheit. Diese zwei Dinge scheinen für Jonny enorm wichtig, wichtiger als Sicherheit, Komfort und Geborgenheit. Er will sie nutzen, um sich mehr seiner wahren Leidenschaft widmen zu können: der Musik. Jonny rappt. In seinen Tracks sagt er Dinge wie: «Aber au ich bin gfange – im materielle Verlange» und «s’Läbe isch wiä Bungeejumping, je tüüfer mer gheit, desto meh hät mer nacher dä Spass dra». Tief gefallen sei er aber nicht. Er habe sein Leben unter Kontrolle. Das unterscheide den Obdachlosen vom Penner, schreibt Jonny auf Facebook.
Der Zürcher versteht es gut, zwei komplett verschiedene Welten aufeinander prallen zu lassen. «Es ist genau dieser Kontrast, der mich inspiriert. Wenn ich am Morgen unter einer Brücke aufwache, am Nachmittag ab und zu als Koch arbeite und mich am Abend mit interessanten Menschen treffe, dann weiss ich, dass ich keinen Elite-Standard brauche, um zufrieden zu sein.»
Mit «Elite-Standard» meint Jonny eine Wohnung. Für die meisten Menschen ein absolutes Minimum. Für Jonny nicht. Ganz besitzlos will der 24-Jährige aber dennoch nicht sein. Die Möbel aus der alten Wohnung sind noch im dortigen Keller zwischengelagert. Auch von Internet und Handy mag sich Jonny nicht trennen. In Kontakt zu bleiben mit anderen Menschen ist ihm wichtig. Ob obdachlos sein einsam mache, frage ich ihn. Er schüttelt energisch den Kopf. «Nein, im Gegenteil, du bist ständig unter Leuten.»
Jonny ist sich aber bewusst, dass sein Lebensstil nicht für jedermann ist. «Wenn du einen 100%-Job in einer Bank hast und jeden Morgen ins Büro musst, dann wird es schwierig ohne Wohnung.» Zudem müsse man sich bewusst sein, dass man ab und zu mit der Polizei in Kontakt komme, sagt Jonny ernst. «Als ich meinen Laptop am Hauptbahnhof Zürich an einer Steckdose aufladen wollte, sprachen mich zwei Polizisten an und wiesen mich daraufhin, dass das Stromdiebstahl sei.»
Solche Begegnungen scheinen Jonny unangenehm zu sein. Der Polizei sage er jeweils nicht, dass er draussen schlafe, wenn sie ihn zu später Stunde anspreche. «Manchmal wäre ich froh, hätte ich mich ein bisschen besser vorbereitet. Ich weiss zum Beispiel nicht einmal genau, ob man überhaupt legal im Freien übernachten darf.»
Der Zürcher schaut penibel darauf, «nicht in den Scheiss zu kommen», wie er selbst sagt. Bürokratische Dinge wie Rechnungen begleichen oder Steuern zahlen macht der Zürcher weiterhin. Briefe, die an ihn adressiert sind, holt er wöchentlich aus dem Briefkasten seiner alten Wohnung. Da steht noch sein Name drauf, weil man in der Schweiz verpflichtet ist, einen Wohnsitz anzugeben. Auch seine Kleider wäscht er regelmässig – in Waschsalons oder in der Wohnung seines Bruders.
Ob er seine Entscheidung schon jemals bereute? «Nicht ein einziges Mal», entgegnet Jonny. «Klar, manchmal ist es schon hart, wenn du bei eisigen Temperaturen draussen schläfst. Da bringst du nur für ein paar Stunden die Augen zu.» Zwar haben seine Freunde vehement versucht, ihn von dieser Idee abzubringen. Doch Jonny zog sie durch. Auch nachdem er Anfang März wegen der eisigen Temperaturen krank wurde. Nach ein paar Tagen in der Wohnung seines Bruders – «Wenn es dir nicht so gut geht, bist du schon extrem froh, Wasser und Toilette in der Nähe zu haben» – zog Jonny wieder auf die Strasse.