Es gibt kaum eine trockenere Lektüre für die Sommerferien als die EU-Verordnung 261/2004. Dennoch dürften viele frustrierte Schweizer Reisende, deren Flüge angesichts des Flugchaos in Europa gestrichen worden sind, sich derzeit über den Bürokraten-Text beugen. Dieser regelt nämlich die Entschädigungen bei Flugausfällen und -verspätungen.
Es geht um Beträge, auf die man als Kunde oder Kundin ungern verzichtet: Streicht eine Fluggesellschaft einen Flug, muss sie zusätzlich zu Verpflegung oder Hotelunterkunft zwischen 250 und 600 Euro lockermachen (siehe Box am Ende des Artikels).
Um diese Ansprüche einzulösen, können sich die betroffenen Passagiere direkt an die Fluggesellschaften wenden. Wie viele Entschädigungsforderungen seit Ausbruch des Flugchaos eingegangen sind, wollen die Anbieter Swiss, Helvetic und Edelweiss nicht preisgeben. Man nehme die Reklamationen oder Forderungen der Gäste ernst und prüfe jeden einzelnen Fall, heisst es bei der Swiss.
Natürlich haben längst nicht alle Passagiere, die nun wegen der fehlerhaften Personalplanung der Airlines nicht abheben können, Anrecht auf Entschädigung. Dennoch könnte das Flugchaos diesen Sommer für die Branche gleich doppelt ins Geld gehen: Allein die Swiss kippte bisher Hunderte Flüge bis Oktober aus dem Sommerflugplan und vermieste so rund 10'000 Fluggästen die Ferien.
Während die Swiss betont, sie halte sich an die EU-Entschädigungsregeln, ergänzt ein Helvetic-Sprecher, man bearbeite Anfragen «rasch und unbürokratisch».
Diese Einschätzung teilen nicht alle Kundinnen und Kunden. Einige sehen sich um ihre Entschädigung geprellt – oder warten seit Wochen vergeblich auf eine Antwort. Deshalb haben sie beim Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) Anzeige eingereicht. Es ist dafür zuständig, die Rechte der Fluggäste durchzusetzen.
«Die Entwicklung der Anzeigen ist in den letzten Monaten steigend», sagt BAZL-Sprecher Christian Schubert auf Anfrage von CH Media. Dies sei bedingt durch den generell höheren Flugbetrieb seit Frühling 2022 sowie auch durch die aktuelle Situation, welche zu mehr Annullationen und Verspätungen im Flugbetrieb führe. Im Juli wandten sich 433 unzufriedene Passagiere an den Bund, im Juni 399, im Mai 243. Noch im Januar waren es rund 200 gewesen.
Macht ein frustrierter Fluggast beim Bund eine Anzeige, verlangt die Behörde von der Airline eine Stellungnahme. Dann ist Geduld gefragt: In der Regel dauert es sechs bis acht Monate, bis ein Fall erledigt wird. Obwohl der Bund rechtlich eine Entschädigungszahlung nicht durchsetzen kann, zeigen sich die Airlines nach einer Anzeige meist kulant und zahlen noch ausstehende Geldbeträge. Aufgrund der Zeitverzögerung zeigt sich Anfang des nächsten Jahres, bei wie vielen der Anzeigen aus dem diesjährigen Chaos-Sommer die Anbieter dann doch zahlen – und in wie vielen Fällen der Bund eine Busse verhängt, ist gar erst in einem Jahr absehbar.
Eine Busse kann das BAZL ausstellen, wenn ein Verstoss gegen die Fluggastverordnung vorliegt. Dies kann jedoch mit bis zu zwei Jahren noch länger dauern als die herkömmliche Erledigung der Anzeigen. Bis Ende Juli verhängte der Bund 108 solche Strafzahlungen. Damit dürfte die Zahl von 140 Bussen, die es 2021 gab, dieses Jahr übertroffen werden. Im Durchschnitt beträgt die Höhe der Busse zwischen 1000 und 2000 Franken. Die Zahlen zeigen, dass die Airlines nur in den wenigsten Fällen mit einer Strafe rechnen müssen.
Während Passagiere bei Flugstreichungen mit den EU-Regeln argumentieren können, ist dies bei Verspätungen schwieriger. Der Europäische Gerichtshof EuGH hatte zwar 2009 entschieden, dass bei Verspätungen ab drei Stunden ebenfalls Anspruch auf Entschädigung besteht – aber nur, wenn der Flug in der EU startet oder landet.
Für Schweizer Fluggäste kommt erschwerend hinzu, dass die Rechtssprechung für die Schweiz nicht verbindlich ist. Dennoch «bildet sie eine wichtige Grundlage für die Auslegung des relevanten EU-Luftrechts durch schweizerische Bundesbehörden und Gerichte», heisst es beim BAZL. Dies ist relevant für Passagiere, die bei Verspätungen Geldforderungen auf dem zivilrechtlichen Weg geltend machen möchten.
Neben dem kostenlosen Angebot des Bundes ist in den letzten Jahren eine regelrechte Industrie entstanden, die für Flugreisende Entschädigungszahlungen erstreitet. Das ist für verärgerte Kundinnen und Kunden zwar praktisch, schmälert aber gleichzeitig die Höhe der Kompensationszahlung: Der Anbieter Airhelp beispielsweise streicht für seine Dienste 35 Prozent der Entschädigung selbst ein. Auch Versicherer wie die Axa mischen mit und versprechen ab einer Jahresprämie von 40 Franken rasche Hilfe beim «emotionalen und nervenaufreibenden» Thema Flugstreichungen und -verspätungen.
Für die Fluggesellschaften ist es mit dem heissen Chaos-Sommer nicht ausgestanden. Es droht auch ein kostspieliger Herbst. Das Geld dafür haben die Airlines offenbar in den Budgets einkalkuliert. «Unvorhergesehene Kosten verschiedener Art werden in unsere Planung generell miteinbezogen», sagt ein Helvetic-Sprecher. (aargauerzeitung.ch)
So Herr Meier, wir gewähren ihnen 250.- Schadenersatz für den ausgefallenem Flug vor 63 Jahren.