Notstand in der Jugendpsychiatrie: Ein Rezept gegen die Versorgungskrise
Immer mehr Jugendliche in der Schweiz leiden unter psychischen Störungen. Im nationalen Gesundheitsbericht 2025 wird auf die auffallend hohe psychische Belastung von Mädchen und jungen Frauen hingewiesen.
Die Nachfrage nach ärztlicher Hilfe übersteigt das Angebot an Fachpersonen bei weitem. Die Corona-Pandemie hat die Problematik der akuten Unterversorgung in der Psychiatrie verstärkt. Was tun, wenn das Gesundheitswesen einmal mehr an seine Grenzen kommt? Eine Initiative im Kanton Bern könnte für die ganze Schweiz zum Modell in der Grundversorgung werden.
Cornelia Hediger, Vorstandsmitglied der Bernischen Gesellschaft für Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, begegnet den zunehmenden psychischen Erkrankungen von Jugendlichen nicht nur täglich in ihrer Praxis. Sie hat während der Pandemie selbst erlebt, wie aufwühlend das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage sein kann. Ein Betroffener sprach sie auf ihrem Weg zur Arbeit an und bat auf offener Strasse eindringlich um Hilfe.
Ziel: die Jugendpsychiatrie entlasten
Die Psychiaterin nahm dieses emotionale Aufeinandertreffen als Motivation, etwas an der Situation zu ändern. Cornelia Hediger sagt, oft würden Betroffene gar nicht wissen, an wen sie sich mit ihrem Anliegen wenden können. Gemeinsam mit dem Projektteam lancierte sie das Berner Modell EFPJU (Expertinnen und Experten Forum Psychische Gesundheit Jugend). Das Konzept propagiert einen Brückenschlag und baut auf die Koordination von Fachpersonen aus Institutionen, Hochschulen, Berufsverbänden sowie Behörden.
«Für die Stärkung der psychischen Gesundheit braucht es ein Netzwerk rund um die Betroffenen und ihre Angehörigen», sagt Cornelia Hediger. Ein Netzwerk von Personen aus der praxisnahen Grundversorgung, der Bildung, Forschung und Gesundheitsförderung, das sowohl in der Prävention als auch in der Behandlung psychischer Erkrankungen unterstützt. Doch oft fehlt die Vernetzung und die Kommunikation untereinander oder das Wissen über Angebote. Je sensibilisierter und vernetzter das Umfeld der Jugendlichen ist, desto besser können die vorhandenen Ressourcen eingesetzt werden. Umso mehr entlastet dies auch die Jugendpsychiatrie.
Seit Dezember 2021 hat das Projektteam 13 berufsübergreifende Fachanlässe zu unterschiedlichen Themen für Kinder- und Hausärzte, Jugendpsychiater, Psychologen, Schul-, Jugend- und Sozialarbeitende sowie Personen aus dem Pflegebereich durchgeführt. Der dadurch angestossene Dialog mit Vertretenden aus über 40 Fachorganisationen fördert und intensiviert die Zusammenarbeit und initiiert Folgeprojekte.
Zu ihnen zählt das Projekt «www.wellguides.ch – Junge Menschen informieren über psychische Gesundheit und Angebote» der Berner Fachhochschule und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Dieses erreicht direkt Jugendliche und junge Erwachsene. Ein anderes Beispiel ist die Online-Fallbesprechung für Mittelschullehrpersonen, die Lehrpersonen und Schulleitungen unterstützt. Weitere handfeste Ergebnisse wie eine Handlungsempfehlung für die Durchführung eines runden Tischs zur vernetzten Unterstützung von Patientinnen und Patienten wurden durch die Initiative des Berner Modells entwickelt.
Bund verfolgt das Projekt mit
Cornelia Hediger spricht von einem enormen Potenzial an Wissen, das zusammenkomme und für innovative Ansätze sorge. Und sie freut sich darüber, dass Anregungen dieser Fachanlässe in die verschiedenen Organisationen fliessen. Auch der Bund erkennt im Berner Modell eine potenziell essenzielle Ressource für die berufsübergreifende Fortbildung und Vernetzung in der Grundversorgung, die zur Linderung der jugendpsychiatrischen Versorgungskrise beitragen kann. Er verfolgt das Projekt im Rahmen seiner «Nationalen Agenda Grundversorgung». Der Ansatz der vernetzten, berufsübergreifenden Bildung findet also auch in der nationalen Politik Beachtung.
Die Gretchenfrage richtet sich wie so häufig im Gesundheitswesen nach dem Preisschild. Investitionen in eine innovative Grundversorgung der jungen Generation lohnen sich sowohl für die Kantone als auch deren Wirtschaft, findet Hediger. Das kostengünstige Berner Modell kann in weitere Kantone getragen werden. Bereits sind Vertretende aus dem Kanton Zürich mit am Tisch – dank der Zusammenarbeit mit Frank Wieber, dem stellvertretenden Leiter Forschung am Institut für Public Health an der ZHAW Winterthur.
«Weitere Kantone sollen dem Ansatz folgen. Schliesslich geht es darum, die psychische Gesundheit jener 12- bis 25-Jährigen zu stärken, die in Gesellschaft und Wirtschaft zukünftig eine zentrale Rolle einnehmen sollen», sagt Cornelia Hediger. (aargauerzeitung.ch)