Der Boom, der nach Corona einsetzte, ist bis heute nicht vorbei. Die letzten Zahlen sind noch immer eindrücklich. Es kamen 149'000 neue Jobs hinzu in nur einem Jahr – das ist mehr als die Bevölkerung der Stadt Bern. Es gibt so wenig Arbeitslose wie seit 15 oder 20 Jahren nicht mehr, je nach Statistik. Die Zahl der offenen Stellen ist noch immer um die 50 Prozent höher als vor Corona. Es boomt, boomt, boomt.
Es boomt so sehr, dass die Wirtschaft auf das Ausland ausweichen muss – weshalb die Zuwanderung in die Schweiz stark angestiegen ist. Und es boomt auch in den USA und in der Eurozone. Auch dort suchen die Unternehmen händeringend nach Personal und steigt darum die Zuwanderung. Und wie.
Die Zuwanderung habe ein «noch nie dagewesenes Ausmass erreicht», vermeldete der Länder-Verein OECD. Rund 6 Millionen neue Einwanderer seien dauerhaft in die OECD-Staaten zugewandert – die ukrainischen Geflüchteten sind in dieser Zahl nicht enthalten.
Über ein Drittel aller Länder verzeichnete den höchsten Stand seit mindestens 15 Jahren – darunter Belgien und Dänemark, Finnland und Frankreich, Irland und Luxemburg, die Niederlande und Spanien sowie die Schweiz. Mehrere Länder meldeten gar die höchsten Zahlen aller Zeiten, etwa Kanada und Grossbritannien.
Die Zuwanderung ist rekordhoch – vermutlich, weil der Mangel an Arbeitskräften fast überall rekordhoch ist. Darum finden die Zugewanderte leichter als je zuvor eine Arbeit. Von den Zuwanderern, die vom Alter her arbeiten können, hat ein rekordhoher Anteil einen Job gefunden.
Das Personal ist allerdings noch immer knapp – und dürfte es auf absehbare Zeit bleiben. Zumal viele Länder demografische Wendepunkte überschritten haben. Neu gehen jedes Jahr mehr Menschen in Rente und damit aus dem Arbeitsmarkt heraus, als dass Junge im erwerbsfähige Alter hinzukommen. Es wird also eher schlimmer.
Auch darum wollen viele Länder mehr herausholen aus der Zuwanderung und diese dafür anders handhaben. Es kommt zu politischen Wenden. Im OECD-Bericht heisst es: «Die Bekämpfung des Arbeits- und Fachkräftemangels ist in den meisten Ländern zu einer der wichtigsten Prioritäten der nationalen Zuwanderungspolitik geworden.»
Doch kein Trend ohne Ausnahmen. Einige wenige Länder haben zu einer strikteren Politik gewechselt. Darunter sind Schweden und Finnland, welche neu die Zuwanderung verringern wollen.
Personal ist also gefragt wie selten zuvor, in der Schweiz wie in fast allen Industrieländern. Doch es geschieht nicht, was sonst immer geschieht, wenn ein Gut knapp ist. Die Löhne gehen in der Schweiz nicht so stark in die Höhe, wie man es erwarten könnte – in den USA hingegen schon. Was läuft da anders für die Arbeitnehmenden in den USA?
Der Unterschied ist gross. In den USA hat der Boom nicht nur die Arbeitslosigkeit fast auf ein 50-Jahres-Tief gebracht; er hat auch die Löhne von Niedrigqualifizierten stark nach oben gedrückt. Dies so sehr, dass es eine «unerwartete Angleichung» der Lohnunterschiede gegeben hat, wie eine neue Studie herausgefunden hat. Vom Anstieg der Ungleichheit in den letzten vier Jahrzehnten ist dadurch ein Viertel wieder rückgängig gemacht worden.
Wenn man hingegen für die Schweiz bei der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) nachfragt, ob es hierzulande irgendetwas Vergleichbares gegeben hat, fällt die Antwort kurz aus. Experte Michael Siegenthaler sagt: «Nein. In den Daten beobachten wir dies bisher nicht.»
Im Mittel aller Branchen bleibt es bei einer Lohnentwicklung, die KOF-Experte Siegenthaler so beschreibt: «Eher ernüchternd für die Arbeitnehmenden, insbesondere wenn man die Inflation berücksichtigt.»
So sei es schon in der letzten Lohnrunde gewesen und so bleibe es voraussichtlich in der laufenden Runde. «Auch wenn einige Abschlüsse vielleicht ein wenig höher ausfallen werden.»
Konkret bedeutet dies, dass die Arbeitnehmenden den Rückstand nicht aufholen, den sie sich im Jahr 2022 eingehandelt haben. Damals sanken ihre Löhne nach Abzug der Inflation um fast 2 Prozent. Nun bleiben diese realen Löhne in den Jahren 2023 und 2024 mehr oder weniger gleich. Der Kaufkraftverlust wird nicht wettgemacht.
Was da im Hintergrund anders läuft in den USA und in der Schweiz, ist vor allem eines: Hierzulande blieben die Arbeitnehmenden ihren Unternehmen weitgehend treu, es blieb aus, was es in den USA gab, laut der Studie: eine grosse Welle von Kündigungen, eine «Great Resignation», in der Arbeitnehmende den Schritt wagten und den Boom nutzten, um sich etwas Besseres zu suchen.
Und Jobwechsel ermöglichen die grossen Sprünge beim Lohn, wie empirische Studien zeigen, erklärt Siegenthaler. Bleiben Arbeitnehmende beim gleichen Unternehmen, dann geht es in aller Regel nur in kleinen Schritten voran.
Warum wagten in den USA so viele Arbeitnehmende die Kündigung beziehungsweise in der Schweiz nicht? Studien dazu gibt es nicht, das Rätsel kann nicht gelüftet werden. Doch Siegenthaler nennt mögliche Erkläransätze.
Einer ist, dass es in den USA vor der Welle an Kündigungen eine Welle von Entlassungen gab. Obwohl es ein Programm, mit dem Kurzzeitarbeit entschädigt wird, auch in den USA gibt, wurde dieses von den Firmen nicht genutzt. Und so schoss in der Coronakrise die Arbeitslosigkeit in die Höhe. Da viele Banden ohnehin gekappt waren, war es naheliegend, nicht zum alten Arbeitgeber zurückzukehren. Das Neue wurde eher gewagt.
Ein anderer Erkläransatz wäre, dass die Arbeitnehmenden in der Schweiz gar nicht so genügsam sind, wie es die Lohnentwicklung würde vermuten lassen. Vielleicht haben sie stattdessen für sich Verbesserung bei den Arbeitsbedingungen ausgehandelt. Zum Beispiel einen Wochentag mehr im Homeoffice. Oder die Anpassung ihres Arbeitspensums, welche der Chef zuvor immer abgelehnt hatte.
Oder aber die Arbeitnehmenden in der Schweiz leiden unter dem, was Ökonomen eine Geldillusion nennen. Sie freuen sich über 2-prozentige Lohnerhöhungen und lassen dabei die Inflation ausser Acht: dass die Preise um mehr als 2 Prozent gestiegen sind und sie weniger kaufen können für den Lohn. Sie erleiden einen Verlust an Reallohn, merken es aber nicht.
Einstweilen lebt die Schweiz jedoch weiterhin mit einem selten starken Boom am Arbeitsmarkt und diesem rätselhaft schwachen Lohnwachstum. (aargauerzeitung.ch)
Letztens hat sich eine Managerin aufgeregt, dass die Mitarbeiter sich gar nicht mehr mit der Firma identifizieren und nicht bereit sind Überstunden zu machen. Evtl deswegen?!
*Ironie off*