Die Schweiz wächst 16 Mal schneller als Deutschland
Das Schlagwort «the polish plumber» prägte die Migrationsdebatte in Grossbritannien. Der «polnische Klempner» stand als Chiffre für günstige Arbeitsmigration aus Osteuropa und Lohndruck für einheimische Arbeiter. Nach der EU-Ostererweiterung im Jahr 2004 strömten innert 10 Jahren 800'000 Polinnen und Polen auf die Insel. Die Zuwanderung aus den neuen EU-Staaten war einer der Gründe, weshalb die Briten 2016 für den Brexit stimmten – und damit die Personenfreizügigkeit beerdigten.
In der Schweiz ist die Personenfreizügigkeit ein politischer Dauerbrenner. In dieser Woche debattierte der Nationalrat über die SVP-Initiative zur 10-Millionen-Schweiz. Bei einer Annahme steht einmal mehr der freie Personenverkehr für Arbeitnehmende aus den EU- und Efta-Staaten auf dem Spiel.
Grossbritannien und die Schweiz stellen eine Ausnahme dar. In den allermeisten Ländern, auch den Nachbarstaaten der Schweiz, ist die Personenfreizügigkeit kaum umstritten. Politischen Zündstoff birgt vielmehr die Asylmigration. Was nicht heisst, dass nicht auch andere Länder an Wachstumsschmerzen leiden. In den Niederlanden flammte eine Diskussion über einen Einwanderungsstopp auf.
Nach dem Nein zum EWR im Jahr 1992 wollte der Bundesrat eigentlich gar keine Personenfreizügigkeit. Doch ohne dieses Abkommen hätte die EU nicht Hand geboten für die Bilateralen I. Unterdessen hat der Bundesrat den freien Personenverkehr lieb gewonnen. Er habe die günstige wirtschaftliche Entwicklung seit der Jahrtausendwende massgeblich gestützt, schreibt er in der Botschaft zur SVP-Initiative. Dank der Rekrutierung im EU-Raum könne die Nachfrage nach Arbeitskräften gedeckt werden. Bei einem Wegfall befürchtet der Bundesrat weniger Wachstum und eine Verschärfung der demografischen Probleme. Weitaus am meisten EU-Zuwanderer sind im erwerbsfähigen Alter, etwa 70 Prozent kommen wegen eines Jobs. Sie verjüngen die Bevölkerung und stabilisieren Sozialwerke wie die AHV. Zumindest vorläufig. Die Einzahler von heute sind die Bezüger von morgen.
Weshalb steht die Personenfreizügigkeit ausgerechnet in der Schweiz permanent auf der Agenda? Die Erklärung liefert ein Blick auf die Statistik. Im Vergleich zur gesamten EU, aber auch unseren Nachbarstaaten, schiesst die Demografie in der Schweiz durch die Decke. Aktuell leben etwa 9 Millionen Menschen in unserem Land. Seit dem Jahr 2000 ist die Bevölkerung damit um fast zwei Millionen respektive 25 Prozent gewachsen. Etwa zwei Drittel der Zuwanderung entfällt auf Bürgerinnen und Bürger aus EU und Efta.
Deutschland mit ähnlichem Wachstum
Deutschland zählt 83,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, im Jahr 2000 waren es 82,2 Millionen. Der bevölkerungsreichste EU-Staat verzeichnet sogar in absoluten Zahlen ein geringeres Wachstum als unser Land. Im Verhältnis ist die Schweiz sogar 16 Mal kräftiger gewachsen als Deutschland.
Die rasante Bevölkerungszunahme in der Schweiz befeuert den viel zitierten Dichtestress. Keine Zuwanderungsdebatte vergeht ohne Hinweis auf verstopfte Strassen, überfüllte Züge, Wohnungsnot oder den Verlust an Siedlungsfläche. Es geht um sogenannte «Überfüllungseffekte». Die SVP rechnet vor, dass 100'000 Zuwanderer 45'500 neue Wohnungen, 54'000 mehr Autos und 135 zusätzliche Kindergärten und Schulhäuser bedeuten.
Mittel gegen Fachkräftemangel?
Christoph Schaltegger ist Professor für politische Ökonomie an der Universität Luzern und Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik. Er hat sich schon mehrfach kritisch zur Personenfreizügigkeit geäussert. In einer aktuellen Studie moniert er, dass die Überfüllungseffekte, die Schattenseiten der Zuwanderung, kaum je beziffert werden.
Schaltegger hinterfragt auch die Position von Wirtschaftsverbänden wie Economiesuisse, welche den freien Personenverkehr als Motor des Wirtschaftswachstums für unabdingbar halten. Seit dem Jahr 2000 ist das Bruttoinlandprodukt in der Schweiz pro Kopf um 23 Prozent gestiegen. Deutschland kommt auf einen ähnlichen Wert trotz deutlich tieferer Zuwanderung. Schaltegger folgert daraus: «Nur eine gezielte Zuwanderung von absoluten Spezialisten mit sehr hohen Einkommen schafft mehr Wohlstand.» Die Einwanderung ins Gesundheitswesen zum Beispiel führe nicht zu höherer Produktivität. Und in letzter Zeit sei das BIP pro Kopf sogar gesunken.
Der Bundesrat sieht derweil in der Personenfreizügigkeit ein Mittel, den sich in Zukunft noch verschärfenden Fachkräftemangel zu lindern. Auch bei diesem Argument erhebt Schaltegger Einspruch – weil die Zuwanderung selber eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften auslöse, namentlich eine Vielzahl an Dienstleistungen, etwa im Gesundheitswesen, dem Detailhandel oder der Gastronomie. «Auch die Zuwanderer sind Konsumenten», sagt Schaltegger.
Übrigens: Am steilsten nach oben im EU/Efta-Raum zeigt die Demografiekurve nicht in der Schweiz. Irland, Zypern, Island, Malta und Luxemburg sind seit der Jahrtausendwende noch stärker gewachsen. In Irland, dem grössten Staat dieser Fünfergruppe, generierte die Personenfreizügigkeit zwischenzeitlich eher kuriose Schlagzeilen als ein nachhaltiges Unbehagen: dass irische Frauen wegen der Zuwanderung attraktiver Polinnen im Datingmarkt ins Hintertreffen gelangen.