Die Schweiz rutscht nach rechts. So lautet der Befund bei den Wahlen am 22. Oktober. Der Vormarsch der SVP sorgte in ausländischen Medien für besorgte Kommentare. Vier Wochen später sieht die Politikwelt ein wenig anders aus. In den zweiten Wahlgängen für den Ständerat erlebte die SVP ein Debakel. Nur Präsident Marco Chiesa siegte im Tessin.
In den Kantonen Aargau, Genf, Solothurn und Zürich sowie für den SVP-nahen Thomas Minder in Schaffhausen gab es Niederlagen, die auch in ihrer Deutlichkeit überraschten. Man kann von einem Backlash sprechen. Relativiert werden sie allenfalls durch den Erfolg von Mauro Poggia in Genf, doch er ist ein sehr moderater «Rechtspopulist».
In gewisser Weise erinnert dieser Ablauf an die Wahlen vor acht Jahren. Damals erzielte die SVP das beste Resultat ihrer Geschichte, und sie konnte mit Guy Parmelin den zweiten Bundesratssitz zurückholen. Die SVP schien unbesiegbar, doch kurz danach erlitt sie in der Abstimmung über ihre Durchsetzungs-Initiative eine denkwürdige Schlappe.
Der «Triumphzug» der Volkspartei hatte Abwehrkräfte geweckt und für eine Gegenreaktion gesorgt, von der sie sich jahrelang nicht erholen konnte. Jetzt hat Rotgrün sogar eine konservative Mitte-Kandidatin wie Marianne Binder im Aargau unterstützt, um einen SVP-Mann zu verhindern. Auch deshalb sind SP und Mitte die wahren Sieger. Eine Bilanz:
Mit einem (nach dem Rechenfehler des Bundes korrigierten) Wähleranteil von 27,9 Prozent erreichte die SVP das drittbeste Ergebnis ihrer Geschichte. Ihre durch fünf andere Rechtsaussen-Politiker ergänzte Fraktion im Nationalrat hat 67 Sitze, was einem Drittel der grossen Kammer entspricht. Doch für die absolute Mehrheit reicht es auch mit der FDP nicht.
Und im Ständerat hat sie nur noch sechs Sitze, einen weniger als bisher. Zählt man Thomas Minder hinzu, sind es sogar zwei Verluste. Der Einfluss der SVP im «Stöckli» bleibt überschaubar. Unterschätzen darf man sie trotzdem nicht. Ihr Kernthema Zuwanderung wird nicht verschwinden. Es wird sich durch die sich anbahnende Wohnungskrise eher zuspitzen.
Die Konzentration auf das Thema Kaufkraft war für die Sozialdemokraten ein Volltreffer. Sie gewannen beim Wähleranteil 1,5 Prozentpunkte sowie zwei Sitze im Nationalrat hinzu. Im Ständerat kommt die SP wie 2019 auf neun Sitze, womit kaum jemand gerechnet hatte. Vielmehr sah es so aus, als ob die SP den Schaden nur begrenzen könnte.
So gingen die Sitze in Freiburg, St.Gallen und Tessin verloren, doch sie wurden durch die teilweise unerwarteten Erfolge in Neuenburg, Schaffhausen und Waadt «kompensiert». Auch die Verteidigung der bisherigen Sitze in Bern, Genf und Solothurn war im Vorfeld nicht unbedingt zu erwarten. Im linksgrünen Lager ist die SP nun (wieder) die klar stärkste Kraft.
Die Freisinnigen sind die Verlierer im bürgerlichen Lager. Sie büssten je einen Sitz im National- und im Ständerat ein. Beim Wähleranteil liegen sie noch knapp vor der Mitte, und das auch nur, wenn man die Liberaldemokraten in Basel-Stadt hinzuzählt. Gegen die Unterstützung von SVP-Kandidaten für den Ständerat muckte die eigene Basis auf.
Das kurze Zwischenhoch von 2015 ist längst Geschichte. Der damalige Präsident Philipp Müller hatte die FDP als vernünftige Alternative zur SVP im rechtsbürgerlichen Lager positioniert. Dem heutigen Parteichef Thierry Burkart fällt die Abgrenzung schwerer. Das zeigte sich, als er aktiv dazu beitrug, den Rahmenvertrag mit der EU zu «versenken».
Dabei geniesst der bilaterale Weg bei der FDP-Wählerschaft und in der Wirtschaft sehr grossen Rückhalt. Und ein neues Verhandlungsergebnis dürfte nur minim besser ausfallen. Burkart ist gefordert, auch wenn es um die Vertretung im Bundesrat geht. Vorerst hat die FDP kaum etwas zu befürchten, aber bei der nächsten Vakanz müsste sie einen Sitz abgeben.
Die Mitte war schon bisher mächtiger, als es ihr geschrumpfter Wähleranteil vermuten liess. Als Mehrheitsbeschafferin war sie für Linksgrün und die Rechten unentbehrlich. Diese Rolle hat sie regelrecht zementiert. Im Ständerat ist sie mit 15 Sitzen klar die Nummer eins. Ohne sie geht kaum etwas, auch wenn FDP, SP, Grüne und GLP theoretisch eine Mehrheit haben.
Wohin die Reise geht, ist unklar. Nach den Wahlen 2015 war der Ständerat auch dank der damaligen CVP ein Korrektiv zum nach rechts gerutschten Nationalrat. In den letzten vier Jahren schlug das Pendel in die Gegenrichtung aus. Die Mitte wird ihre Machtposition auskosten. Und der umstrittene Namenswechsel hat sich definitiv ausgezahlt.
Die Grünen haben am 22. Oktober das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Doch sie haben auch die mit Abstand grössten Verluste beim Wähleranteil verbucht. Noch schmerzhafter sind die Einbussen im Ständerat. Die Grünen können keine eigene Gruppe mehr bilden, und mit der jungen Genferin Lisa Mazzone verloren sie eine Politikerin mit grossem Potenzial.
Parteipräsident Balthasar Glättli zog die Konsequenzen und erklärte seinen Rücktritt. Er könnte die Chance sein für einen Neustart, doch in der Partei bahnt sich bereits ein Richtungsstreit an zwischen den «Realos», die eine pragmatischere Politik fordern, und den linken «Fundis». Auf die Grünen kommen unruhige Zeiten zu.
Der Erfolg von Tiana Angelina Moser bei der Ständeratswahl in Zürich war Balsam für die geschundenen Seelen der Grünliberalen. Erstmals seit acht Jahren sind sie wieder in der kleinen Kammer vertreten. Dem stehen jedoch die sechs Sitzverluste im Nationalrat gegenüber, obwohl sie beim Wähleranteil nur sehr geringe Einbussen erlitten hatten.
Die GLP bleibt abhängig vom Proporzglück, das ihnen 2011 und 2019 treu war, 2015 und 2023 hingegen nicht. Und bei Majorzwahlen von der «richtigen» Konstellation wie nun in Zürich. Um mehr zu erreichen, muss sie strategisch und taktisch über die Bücher. Das gilt auch für eine mögliche gemeinsame Bundesratskandidatur mit den Grünen.
Was bedeutet das für die Politik in den nächsten vier Jahren? Der Rechtsrutsch im Nationalrat wird durch die Verluste von SVP und FDP im Ständerat stark relativiert. Zur Machthaberin wird die Mitte. Sie kann entscheiden, auf welche Seite sich die Waagschale senkt. Und am Ende sind Lösungen gefragt, die allenfalls vor dem Stimmvolk bestehen können.
Das Beste steht aber am Schluss der Wahlanalyse;
„Und am Ende sind Lösungen gefragt, die allenfalls vor dem Stimmvolk bestehen können.“
Problembewirtschafter von links und rechts sollten dies mal zu Kenntnis nehmen.