Eigentlich drückt sich Matthias Huss nüchtern und sachlich aus. Doch als der Glaziologe bei der dritten Messstation auf dem Griesgletscher steht und sich wieder das gleiche Bild bietet, klingt er plötzlich anders. «Wahnsinn» und «krass» sind die Worte, die aus dem Mund des Wissenschaftlers kommen. «Das hätte ich nicht gedacht.»
Es ist der 11. September. Wenige Stunden zuvor, auf der Fahrt zum Nufenenpass, frohlocken die Morgenshow-Moderatoren im Autoradio: «Wieder Temperaturen um die 30 Grad, die volle Ladung Sonnenschein.» Die Schweiz erlebt einen scheinbar nie enden wollenden Sommer.
Gleich hinter der Passhöhe, auf der Walliser Seite, führt eine kleine Strasse zum Griessee. Er befindet sich auf 2386 Metern über Meer und ist einer der höchstgelegenen Speicherseen der Schweiz. Von hier aus brechen Huss und sein Team auf, um Messungen am gleichnamigen Gletscher durchzuführen: dem Griesgletscher.
Jeweils im September misst der Forscher von der ETH Zürich und der WSL Birmensdorf, wie stark die Masse der Schweizer Gletscher zurückgegangen ist. Zu dieser Jahreszeit ist die Ausdehnung des Eises normalerweise am tiefsten. Die Messungen führen er und das Gletschermessnetz Schweiz (GLAMOS) auf 20 Schweizer Gletschern durch.
Der Griesgletscher sticht dabei heraus. «In den vergangenen Jahren hat er bei der mittleren Dicke immer wieder am meisten verloren», sagt Huss, als er über die Staumauer läuft. «Bei ihm ist am meisten Eis von der Oberfläche abgeschmolzen.»
«Besonders eindrücklich» sei in den vergangenen zwei Jahren die Farbe des Gletschers gewesen, sagt der Glaziologe. Er blickt über den See und zeigt auf einen der Gipfel – das Blinnenhorn auf fast 3400 Metern über Meer. «Beinahe der ganze Gletscher ist gräulich gefärbt. Nur ganz zuoberst hat es eine kleine Fläche mit weissem Schnee.»
Damit der Gletscher im Gleichgewicht wäre, müsste er zu diesem Zeitpunkt des Jahres bis zur Steilstufe mit Winterschnee bedeckt sein, erklärt Huss. «Dieses Jahr und im letzten Jahr war der Schnee jedoch bereits im Juli bis ganz hinauf weg.» Die Hitze habe daher den ganzen Sommer lang das Eis angreifen können.
Die letzten beiden Jahre seien für die Gletscher sehr schlecht gewesen, so Huss. «Wenig Schnee im Winter und ein zu heisser Sommer.» Dieses Jahr habe es immerhin zwei-, dreimal geschneit im Sommer, was die Schmelze etwas gebremst habe.
2022 war ein Rekordjahr: Die Schweizer Gletscher verloren sechs Prozent ihres Volumens. «Statistisch gesehen war das Jahr ein absoluter Ausreisser. Laut Wahrscheinlichkeit hätte das Jahr 2023 etwas normaler sein müssen. Doch das Gegenteil ist der Fall.»
Huss geht davon aus, dass 2023 das zweit- oder drittschlechteste Jahr für die Gletscher werden dürfte. Sicher wissen wird er das aber erst Ende September, wenn die Messungen abgeschlossen sind.
Über einen Trampelpfad geht es weiter. Sommerliche Hitze herrscht hier oben nicht, aber es ist warm. Das Thermometer zeigt am Mittag 15 Grad an. Pullover und Jacke wandern in den Rucksack.
Mit ausgestrecktem Arm zeigt Huss, bis wo der Gletscher im Jahr 2008 gereicht hat. Er ist über 500 Meter zurückgegangen. Der Klimawandel ist hier oben nicht bloss graue Theorie. Er ist greifbar.
Und dennoch. Es gibt Leute, die nicht wahrhaben wollen, was sich vor ihren Augen abspielt. Die daran zweifeln, ob es den menschengemachten Klimawandel wirklich gibt. Die sagen, es habe schon immer Klimaschwankungen gegeben.
Was geht einem Wissenschaftler wie Matthias Huss durch den Kopf, wenn er so etwas hört?
Weder Ärger noch Unverständnis. Sondern Gegenargumente.
«Es stimmt natürlich, dass Gletscher einst bis nach Zürich reichten und dann wieder zurückgingen. Während der Römerzeiten waren sie teilweise noch kleiner als heute», sagt Huss. «Das ist auf die Eiszeiten und Zwischeneiszeiten zurückzuführen.»
Auch aktuell erlebe man eine Zwischeneiszeit. Anders als bei den Römern komme nun aber auch noch der menschengemachte Klimawandel hinzu. «Tausende Studien bestätigen das», sagt Huss. «Deshalb verändern sich die Gletscher jetzt viel schneller als je zuvor.»
Aber kann die Schweiz wirklich etwas ausrichten gegen den Klimawandel? Ist sie nicht viel zu klein?
Huss: «Wir können nur dann Auswege aus der Klimakrise finden, wenn wir alle zusammenarbeiten. Wenn wir unseren Teil nicht leisten, muss es jemand anderes tun. Das ist egoistisch.»
Ankunft bei der Gletscherzunge. Die Schmelze ist deutlich sichtbar. Das Wasser sammelt sich zu Bächen und rauscht über die Oberfläche. Schutt hat sich auf ihr abgelagert. Mehr als früher. Die Bergflanken haben durch das Abschmelzen des Eises an Stabilität verloren.
Negativer Nebeneffekt: Das Sonnenlicht wird durch die Ablagerungen weniger stark zurückgestrahlt, was die Schmelze beschleunigt. Ein sogenannter «Rückkopplungseffekt».
Dass sich Bäche auf dem Gletschereis bilden, ist kein gutes Zeichen. «Auf der Zunge sehen wir keine Gletscherspalten», erklärt Huss. «Deshalb fliesst das Wasser an der Oberfläche ab.» Bei einem Gletscher, der «lebt» und sich bewegt, würde das Wasser via Gletscherspalten auf das Gletscherbeet fliessen. Das Wasser würde sich also unterhalb des Eises in Richtung Tal bewegen.
«Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen», sagt Huss, als er die erste Messstation sieht. Die Stange, die er letzten September acht Meter tief in den Boden eingebohrt hat, ragt schräg aus dem Eis heraus. «In einer Woche hätte sie vermutlich am Boden gelegen.»
So aber kann Huss gerade noch ablesen, wie viel Eis seit vergangenem September von der Oberfläche abgeschmolzen ist. Es sind 6 Meter und 50 Zentimeter. Genau die Höhe, die die Stange hat.
Huss hält die Stange aufrecht hin und blickt nach oben. Dort, wo das Ende der Stange ist, war vor einem Jahr noch Gletschereis. Zum Vergleich: Der Weltrekord beim Stabhochsprung liegt bei 6 Metern und 22 Zentimetern.
Das Eis bei der ersten Messstation ist somit etwa gleich stark zurückgegangen wie im Extremjahr 2022. In den vergangenen zwei Jahren ist an dieser Stelle 13 Meter Gletschereis weggeschmolzen. «Das ist brutal, ja», sagt Huss.
Auf dem Gletscher befinden sich insgesamt 15 Messstationen. Je weiter oben sie sind, desto weniger gross ist der Rückgang. Im vergangenen Jahr betrug er im Schnitt etwa vier Meter – doppelt so viel wie der bisherige Rekordwert.
Huss und sein Team bohren ein neues Loch, um die Stange wieder zu verankern. «Früher haben wir sie nur sechs Meter im Eis vergraben. Doch das reicht nicht mehr.»
500 Meter weiter oben befindet sich die zweite Messstation. Auch hier erreicht die Schmelze ähnliche Werte wie im Rekordjahr 2022. «Der Gletscher hat wieder extrem viel Eis verloren.»
Es wird steiler. Im Hintergrund ragt eine schroffe Felswand empor, ein Wasserfall veredelt die spektakuläre Szenerie. Der Fallwind sorgt für Abkühlung. Pullover und Jacke werden wieder hervorgekramt.
Huss schreitet zum dritten Messpunkt. Wieder ist die Stange nur knapp nicht umgefallen. 6 Meter und 60 Zentimeter beträgt der Rückgang hier. Das ist sogar noch mehr als am untersten Punkt.
«Wahnsinn, krass, das hätte ich echt nicht gedacht.»
Der Blick schweift noch einmal zurück. Die Gletscherzunge hinab, runter zum Stausee mit den Windrädern. Huss erzählt von einem Einsatz, den er vor drei Wochen hatte. Er war auf dem Gletscher St. Annafirn bei Andermatt.
Zum allerletzten Mal.
«Wir haben unsere Messstationen eingepackt. Es hat so wenig Eis, dass sich das Messen nicht mehr lohnt.»
Den Griesgletscher wird es noch etwas länger geben. Aber das 21. Jahrhundert wird auch er nicht überleben. Schon sehr bald werde die Zunge vom oberen Teil des Gletschers abgetrennt sein, erklärt Huss. «Sie ist dann nur noch Toteis und wird nicht mehr genährt. In ungefähr 20 Jahren dürfte sie weg sein.» Der obere Teil des Gletschers werde noch länger existieren. «Voraussichtlich bis 2060 oder 2070.»
«Wir haben es in der eigenen Hand, einen Teil der Folgen des Klimawandels zu verhindern», sagt Huss, bevor er und sein Team sich in Richtung Steilstufe verabschieden. «Für den Griesgletscher ist es zwar zu spät. Hier können wir nur noch den Niedergang dokumentieren. Aber die grösseren Gletscher können wir noch retten.»
Wäre dies nicht mal ein Tolles Thema für eine Reportage über z.b. Marcel Dettling, oder einen anderen Exponenten der ja so naturverbunden SVP. Eine Tag mitgehen und die Gletscher vermessen.