In der Schweiz ist es momentan sehr mild. Was bedeutet das für die Gletscher?
Die Gletscher befinden sich oft auf 3000 Meter über Meer oder noch höher. Dort oben ist es immer noch genug kalt, dass sie nicht schmelzen. Im Winter sind die Gletscher auf Temperaturen nicht sehr anfällig, viel relevanter ist die Schneemenge.
Wie sieht es da aus?
Die Lage ist schlecht. Es hat viel zu wenig Niederschlag gegeben im Frühwinter. Aber der Winter ist noch lang. Es ist durchaus möglich, dass die Defizite noch aufgeholt werden.
#Glaciers in the Alps are now 3 months into the new accumulation season. And again, their state is worse than the long-term mean... There is some snow in the mountains but much less than normally.
— Matthias Huss (@matthias_huss) December 27, 2022
The winter is still long. Fingers crossed!@glamos_ch @VAW_glaciology pic.twitter.com/AcUl4KLtnr
Wie lange dauert die Phase, in der die Gletscher wachsen?
Die Akkumulationsphase dauert normalerweise von Oktober bis Mai. Im Optimalfall wird dann genau so viel Schnee angelagert, wie im Sommer wieder schmilzt. Dann wäre der Gletscher im Gleichgewicht. Diese Situation hatten wir jedoch seit Jahrzehnten nicht mehr.
Weshalb ist die Schneemenge so wichtig?
Einerseits ist der Schnee die Nahrung für den Gletscher. Der Schnee, der liegen bleibt, wird zu Firn und dann zu Eis. Andererseits bildet der Schnee eine Schutzschicht für das Eis. So lange es eine Schneeschicht über dem Eis hat, schmilzt es nicht. Schnee hat eine hohe Rückstrahlfähigkeit – die sogenannte Albedo. Wenn Schnee auf dem Gletscher liegt, geht viel Energie zurück in die Atmosphäre. Vergangenen Sommer war dies zeitweise aber überhaupt nicht mehr der Fall.
Erläutern Sie!
Alle Gletscher, die wir beobachtet haben, waren komplett schneefrei. Das bedeutet, dass sie unter solchen Bedingungen keine Chance haben zu überleben.
Der vergangene Sommer war sehr heiss. Wie viel Eis haben die Gletscher in der Schweiz deswegen verloren?
Das Gletscherjahr dauert vom 1. Oktober bis zum 30. September. In der kürzeren Vergangenheit hatten wir immer wieder Verluste von zwei bis drei Prozent des verbleibenden Eisvolumens. Bereits das ist extrem viel. Das letzte Jahr hat aber alle Rekorde gesprengt. In nur einem Jahr sind sechs Prozent des Schweizer Gletschervolumens verloren gegangen.
Nun beginnt das neue Gletscherjahr wieder schlecht. Befürchten Sie, dass sich das Extremjahr 2022 wiederholt?
Statistisch gesehen ist die Chance gering. Das Jahr 2022 war ein extremer Ausreisser. Aber die Frequenz der Extremjahre hat zugenommen. Wir hatten auch schon früher Ausreisser. Etwa das Jahr 1947. Das war jedoch ein Einzelfall. Jetzt gab es 2015, 2017, 2018, 2019 und 2022 jeweils sehr viel Schmelze. Daher ist es leider nicht ausgeschlossen, dass wir wieder ein schlechtes Jahr haben werden. Dass es wieder so schlimm wird wie 2022 ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich.
Wie lange wird es in der Schweiz noch Gletscher geben, wenn es so weitergeht?
Das hängt von der Entwicklung des Klimas und den CO2-Emissionen ab. Wenn wir so weiterfahren wie bisher, haben wir Ende Jahrhundert praktisch nichts mehr. Vielleicht hätte es dann oberhalb von 4000 Metern noch etwas Eis. Aber der Jungfraujoch wäre sicher eisfrei.
Wie lautet die optimistischere Prognose?
Wenn wir das Pariser Klimaabkommen umsetzen würden und die Welt würde bis 2050 CO2-neutral, dann könnte man etwa einen Drittel des heutigen Schweizer Gletschervolumens retten. Selbst im besten Fall sind also zwei Drittel verloren.
Glauben Sie, dass die Pariser Klimazeile erreicht werden?
Das ist eine schwierige Frage. Die Ziele sind sehr ambitioniert. Nicht nur die Schweiz müsste CO2-neutral werden, sondern auch Länder wie Russland, China und die USA. Ich gehe davon aus, dass die Gletscher in den Alpen mehr oder weniger verloren sind.
Ist der Gletscherrückgang ein weltweiter Trend?
Ja, das sieht man überall. Es gibt sogar Regionen, in denen sie noch schneller zurückgehen als bei uns in den Alpen. Das sind vor allem Regionen die stark durch den Ozean beeinflusst werden. Alaska oder Patagonien etwa.
Gibt es auch Gegenden, in denen die Gletscher weniger schnell schrumpfen?
Im Westen des Himalayas gibt es eine Region, in der die Gletscher in den vergangenen Jahrzehnten fast im Gleichgewicht waren. Allerdings scheint die Lage nun auch dort zu kippen. Das Bild des Gletscherrückgangs ist global gesehen konsistent. Es gibt einen eindeutigen, negativen Trend.
Zurück zur Schweiz. Es kursieren immer wieder Bilder von Gletschern, die künstlich abgedeckt werden, damit sie nicht schmelzen. Wird das noch gemacht?
Es ist wichtig, dass man das Abdecken der Gletscher in den richtigen Kontext setzt.
Nur zu!
Mit weissen Tüchern kann die Schmelze um über 50 Prozent verringert werden. Aber das wird nur lokal eingesetzt. Momentan werden nur 0,02 Prozent der Schweizer Gletscherfläche mit Tüchern abgedeckt. Damit retten wir sie nicht – und das war auch nie das Ziel solcher Massnahmen der Gletscher-Skigebiete. Das wird nur aus ökonomischen Gründen gemacht, um eine Skipiste weiterhin präparieren zu können. Wir haben in einer Studie ausgerechnet, was es kosten würde, die gesamte Gletscherfläche der Schweiz abzudecken.
Und?
Das würde jährlich ein bis zwei Milliarden Franken kosten. Damit hätte man den Rückgang jedoch nicht aufgehalten, sondern nur halbiert. Und damit natürlich neben den riesigen Kosten eine gewaltige Auswirkung auf die Umwelt. Also mit Sicherheit keine Option!
Welche Konsequenzen hat es für die Schweiz, wenn zwei Drittel der Gletscher weg sind?
Einerseits verliert die Schweiz ein Identifikationsmerkmal. Zu einem Alpenland gehören die weissen Gipfel und Gletscher eigentlich dazu. Abgesehen davon gibt es lokale Auswirkungen.
Die wären?
Gletscherabbrüche, Eislawinen und Gletscherseeausbrüche. Es werden Gefahren auftreten, wo sie bisher nicht aufgetreten sind, die das Leben in den Alpentälern beeinflussen werden.
Und welche Auswirkungen wird man im Flachland zu spüren bekommen?
Am deutlichsten wird der Einfluss auf den Wasserkreislauf sein. Die Gletscher sind ein natürlicher Wasserspeicher, der das Wasser im Winter aufnimmt und im Sommer wieder abgibt. Das Positive am ganzen System ist: Das Wasser wird genau dann abgegeben, wenn es am dringendsten gebraucht wird. Nämlich dann, wenn es trocken und heiss ist. Die Gletscher verhalten sich antizyklisch. Dadurch wurden vergangenen Sommer die Auswirkungen der Hitzewelle deutlich abgefedert. Wir hatten sehr viel Gletscherschmelze, welche die Wasserknappheit korrigieren konnte.
Dieser Mechanismus wird in Zukunft nicht mehr greifen …
Ein gleicher Hitzesommer in 30 Jahren wird ganz andere Auswirkungen haben und zu viel mehr Wasserknappheit führen. Das verursacht Probleme für die Stromversorgung, für die Bewässerung, fürs Trinkwasser und für den Grundwasserspiegel.
Ist die Schweiz gut vorbereitet auf dieses Szenario?
Für die Schweiz wäre es kein Weltuntergang, wenn die Gletscher weg sind. Dank der Stauseen haben wir etwas Kapazität, um Wasser zurückzuhalten, welches im Sommer eingespiesen werden könnte. Aber es wird sicher einschneidende Veränderungen in unser Leben geben. Die Gletscherschmelze wird auch global Konsequenzen haben.
Erklären Sie!
Die grösste Veränderung wird den Meeresspiegel betreffen. Das ist etwas, das uns in den nächsten Jahrzehnten extrem stark beschäftigen wird. Wenn wir einen Anstieg von einem bis drei Meter haben – und das liegt alles im Bereich des Wahrscheinlichen für die nächsten Jahrhunderte – wird das für Milliarden von Menschen extreme Konsequenzen haben. Und da ist die Schweiz, wenn wir an die Flüchtlingsströme denken, auch wieder betroffen.
Es wird gefährlicher am Berg...