Kaum ist der Wanderer aus dem Bus gestiegen, geht sein Blick automatisch nach oben. Hoch über die Dächer von Schwanden. «Als hätte ein Riese die Erde aufgerissen», sagt er und schüttelt fassungslos den Kopf. «Die armen Bewohner», sagt seine Begleiterin, die den Hang ein paar Sekunden später erblickt.
Die Spuren des Erdrutschs von Schwanden im Gebiet Wagenrunsen sind selbst vom Bahnhof aus nicht zu übersehen. Wo bis vor Kurzem grüne, satte Wiese wuchs, klafft jetzt eine tiefe, schlammige Grube. Über 400 Meter ist sie lang. Ein Rinnsal fliesst durch die aufgemischte Erde, direkt in die Sernft, einen Zufluss der Linth. Dort mischt sich Braun mit Eisblau.
Am 29. August kamen hier 30'000 Kubikmeter Geröll herunter. Die Schlammlawine begrub sechs Gebäude unter sich. 38 weitere beschädigte sie. Seither kommt es immer wieder zu Rutschungen. Die letzte ereignete sich in der Nacht auf den Montag. Ein Ende ist nicht in Sicht. Theoretisch könnten noch 60'000 Tonnen Geröll herunterfallen.
Wann es so weit sein wird, das kann niemand wissen. Auch nicht Geologe Mark Feldmann, der jeden Stein im Kanton Glarus kennt. Er hat schon als Bub im Klöntal Erdrutsche miterlebt, hat später an der ETH Geologie studiert und führt heute geologische Führungen in der Region durch. Ausserdem hat Feldmann «Das Glarner Geologiebuch» geschrieben. Heute steht er vor der tiefen Schneise in Schwanden, die das Geröll zurückgelassen hat.
Er sagt, der Hang wird kommen. Früher oder später. «Wir können die Natur nicht aufhalten.» Es sind Worte, die den neunzig Bewohnerinnen und Bewohnern, die derzeit in Hotels und bei Bekannten unterkommen müssen, keine Hoffnung geben. Manche von ihnen haben ihr Haus bereits verloren. Andere müssen aus der Ferne zuschauen, wie ihr Zuhause wortwörtlich bachab geht.
Der Geologe spricht von «purem Glück», dass alle rechtzeitig ihre Häuser verlassen konnten, bevor die Schlammlawine sie einholte. Der Gemeinde Glarus Süd möchte er diesen Erfolg nicht zusprechen.
Feldmann zeigt auf den obersten Punkt des Erdrutschs. Direkt unterhalb der Baumgrenze sieht man zerbröseltes Felsgestein und Überreste mehrerer Zaunreihen. Die Strasse selbst ist an dieser Stelle ebenso in die Tiefe gestürzt wie der Rest des Hügels. Gemäss Feldmann ist es kein Zufall, dass ausgerechnet hier der Hang abzufallen begann. Im Gegenteil. Es war vorhersehbar. Er holt weit aus, um das zu erklären.
«Vor über 280 Millionen Jahren wüteten hier in der Region Vulkane.» Zu sehen ist von ihnen nichts mehr. Ihre Überreste namens Verrucano liegen jedoch noch immer zu Füssen der Alpen. Auch hier auf dem abgerutschten Hügel in Schwanden. Verrucano ist ein Gemisch aus harten Gesteinsfragmenten, Felsbrocken und Vulkanasche.
Wie Feldmann erklärt, kann Verrucano aufgrund seiner heterogenen Beschaffenheit nicht nur sehr hart und gleichzeitig bröckelig sein, sondern auch viel Wasser binden. Wenn er das tut, wird er sehr schwer. Und irgendwann, gerade nach stürmischen Nächten wie jener am 29. August, ist er zu schwer und sackt ein. Wortwörtlich kann ein Tropfen hier das Fass zum Überlaufen bringen. Oder eben: den Hügel zum Einsturz.
Hätte die Gemeinde die grosse Rutschung vor einer Woche also überhaupt aufhalten können? «Nein, das nicht. Aber man hätte Monate früher etwas tun können», sagt Feldmann. Zu verschütteten Wohnhäusern hätte es nicht kommen müssen, ist er sicher.
Seinen ersten Kritikpunkt macht er an jener Stelle des Hügels fest, auf die er vorhin gezeigt hat. Der oberste Bereich des Erdrutsches. «Warum war hier eine freie Fläche? Hier gehören Bäume und Sträucher hin, die das Gestein mit ihren Wurzeln stabilisieren», sagt Feldmann. Ganz besonders Schwanden hätte das wissen müssen.
Schon vor 200 Jahren sei es in der Gemeinde zu starken Erdrutschen gekommen. Dies, nachdem die Bewohnerinnen und Bewohner den Wald auf ihren Hügeln rigoros abgeholzt hatten. Damals war Holz die einzige Einnahmequelle, die den Leuten noch blieb. Doch die Quittung kam prompt. Die zahlreichen Erdrutsche, die Geröll direkt in die Linth beförderten, führten zu Flussrückstau und schliesslich zu mehreren Überschwemmungen von Weesen.
Auch das aktuelle Unglück bahnte sich an. In den letzten Jahren kam es an exakt diesem Hügel immer wieder zu kleineren Rutschungen. Feldmann schrieb darum im April 2023 dem Gemeindepräsidenten Hansruedi Forrer. Er sagte ihm: «Da fehlen Sträucher und Bäume.» Auf den Hinweis reagierte die Gemeinde nicht.
Für das Pflanzen von Gebüsch wäre es ohnehin zu spät gewesen. Dessen ist sich auch Feldmann nun bewusst. «Warum waren die Wohnhäuser direkt unter der instabilen Stelle überhaupt noch bewohnt? Und warum erbaute man ein Mäuerchen oberhalb der Strasse, anstatt tiefgreifende Absicherungen zu machen?»
2021 hätten beim Hügel Bohrungen stattgefunden, die Aufschluss über die Beschaffenheit des Bodens hätten liefern sollen. Feldmann weiss – wenn auch nicht aus offizieller Quelle –, dass man bei diesen Bohrungen nach einigen Metern auf festen Fels gestossen ist. In diesen Fels hätten seiner Meinung nach tiefe Verankerungen installiert werden müssen, um Strasse und Wohnhäuser abzusichern. Passiert ist dies jedoch nicht.
Die Gemeinde Glarus Süd bestätigt auf Nachfrage, dass diese Bohrungen stattfanden: «Im 2021 wurde die Strasse nach den ersten Rutschereignissen im Dezember 2020 saniert. Dabei wurden auch Sondierbohrungen ausgeführt zur Erkundung des Untergrundes sowie instrumentiert mit Inklinometerrohren zur Messung der Deformationen in der Tiefe.»
Auf die Frage, welche Erkenntnisse die Gemeinde aus diesen Bohrungen zog, antwortet die Gemeinde ausweichend: «Die Bohrungen haben punktuell den Untergrund aufgeschlossen. Zwei der damals erstellten Bohrungen werden heute noch als Überwachungsbohrung genutzt.» Aufgrund der daraus hervorgehenden Erkenntnisse – was diese Erkenntnisse waren, bleibt noch immer offen – habe man eine Gefahrenbeurteilung durchgeführt und eine Notfallplanung mit einem Evakuierungsperimeter ausgearbeitet, «welche massgeblich dazu beigetragen haben, dass am 29. August keine Person verletzt wurde».
Auch zur geologischen Ausgangslage, die zum Erdrutsch führte, liefert die Gemeinde eine ausführliche Erklärung: «Im stark geklüfteten Verrucano-Fels sammelt sich Quellwasser, welches über im Detail noch nicht bekannte Wasserwege zirkuliert und entlang der Glarner Hauptüberschiebung über dem Flysch als ‹Stauer› austritt.»
Dieses Wasser sei der Motor für die Rutschung. «Das aufgestaute Wasser führte bereits zu den Rutschereignissen im Frühling. Am 29. August war der Wasserdruck nach den Niederschlägen derart gross, dass es zu massiven Bewegungen kam. Mit den Bewegungen haben sich Wasserwege geöffnet und es floss im Verhältnis zum normalen Abfluss in der Wagenrunse sehr viel Wasser aus dem Berg. Das Wasser mobilisierte die Rutschmasse, sodass diese als Murgang ins Tal niederfuhr und das Siedlungsgebiet erreichte.»
Mark Feldmann überzeugt diese Erklärung nicht. Im Gegenteil. Er sieht darin einen Beweis, dass die engagierten Geologen keine Ahnung haben, was wirklich im Berg vor sich geht. In Verrucano seien Wasserwege nicht möglich, weil dieser die Wassermassen aufsauge wie ein Schwamm.
Ausserdem wisse man, dass die Schieferplatte «Flysch» in eine ganz andere Richtung verlaufe. «Diese unterirdischen Wasserwege müssten demnach in entgegengesetzte Richtung fliessen, als das Wasser schliesslich kam», sagt Feldmann und zückt zum Beweis seine Karte, auf der die Schieferplatten des Gebiets abgebildet sind. Tatsächlich verlaufen sie nicht in die Richtung, in die der Berg abfiel, sondern entlang des Tals.
Feldmann führt an, dass es am Hügel bereits am 20. August zu einem Erdrutsch gekommen ist. Also zu einer Zeit, in der die Schweiz unter der Hitze ächzte und sich Regen herbeiwünschte. Jener Erdrutsch beschädigte die 2021 sanierte Strasse erneut.
«Wäre die Situation so, wie sie die Geologen für den grossen Erdrutsch am 29. August schildern, hätte es gar nicht zur Rutschung am 20. August kommen können. Wie auch, ohne Wasser?», sagt Feldmann.
Er selbst findet hingegen eine Erklärung für beide Rutschungen. Denn nicht nur Starkregen könnten bei Verrucano einen Erdrutsch auslösen, sondern auch zu hohe Temperaturen. «Vier Meter ins Hügelinnere befindet sich womöglich Permafrost. Das gefrorene Wasser zwischen dem Verrucano-Gestein hält die Masse zusammen», sagt Feldmann. Mit diesem Hitzesommer könnte ein Teil dieses Permafrosts geschmolzen sein. Wenn das passiert, werde der Hügel instabil, sauge der Verrucano-Untergrund noch mehr Wasser auf, erschwere sich und stürze irgendwann hinunter.
Feldmann kommentiert die Ausführungen der Gemeinde darum mit:
Bei seiner Kritik gehe es ihm nicht darum, irgendjemanden zu verunglimpfen. «Aber es ist tragisch für die Bewohnerinnen und Bewohner.» Feldmann hat kein Vertrauen darin, dass die Gemeinde Glarus Süd und ihre Geologen die Menschen schützen können. Oder auch nur Massnahmen ergreifen können, die die Schäden auf ein Minimum begrenzen. Dafür fehle ihnen das geologische Wissen.
Im früheren Beruf habe ich unteranderem auch Strassen geplant, weshalb ich mir schon beim allerersten Artikel über diesen Rutsch zwei Fragen gestellt habe.
Wieso hat man 4 Millionen in eine solche Strasse investiert und sie dann nicht einmal ordentlich verankert, zudem wie es der Geologe auch gesagt hat, wenn ein Hang rutschen könnte, muss man ihn doch sofort bepflanzen, so ziemlich als erste Massnahme.
Hoffentlich wird das weiter analysiert und nachgeforscht, auch gerade für die Betroffenen.