Verbrechen verhindern, bevor sie passieren: Im Science-Fiction-Thriller Minority Report von Steven Spielberg ist das möglich. Tom Cruise spielt dort den Polizisten John Anderton, der im Jahr 2054 einen einfachen Job hat: Er kann sich auf die Visionen der drei Hellseher Agatha, Arthur und Dashiell verlassen, die angeblich jeden Mord wenige Stunden davor vorhersagen können.
Die Precrime-Abteilung der Washingtoner Polizei hat mit diesen Visionen grossen Erfolg: Sie konnten innerhalb der letzten Jahre alle Morde verhindern, Täterinnen und Täter wurden verwahrt, bevor sie auch nur einen Menschen töten konnten.
Das neue Schweizer Anti-Terror-Gesetz verfolgt dasselbe Ziel. Verbrechen verhindern, bevor sie passieren – oder in den Worten des Bundesrates: «Ziel der neuen polizeilichen Massnahmen ist es, eine zunehmende Hinwendung zur Gewalt zu verhindern.»
Das Anti-Terror-Gesetz wurde Ende September von National- und Ständerat beschlossen und es sieht einen Katalog an neuen Mitteln vor, mit denen die Schweizer Behörden auf «terroristische Gefährderinnen und Gefährder» reagieren können. Ins Visier der Behörden kommt man, wenn es Anhaltspunkte gibt, dass «sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird».
Sprich: Der Verdacht reicht. Dabei geht es nicht nur um schwere Straftaten. Dazu gezählt wird auch die Verbreitung von «Furcht und Schrecken». Ob man Gefährderin oder Gefährder wird, werden nach dem neuen Gesetz nicht irgendwelche Übermenschen mit hellseherischen Kräften entscheiden, sondern die angestellten Menschen beim Bundesamt für Polizei (Fedpol).
Sie sind es, die milde Massnahmen wie Kontakt-, Rayon- und Ausreiseverbote beschliessen können – auch gegen zwölfjährige Kinder. Sie sind auch diejenigen, die Hausarreste bei Zwangsmassnahmengerichten beantragen können. Und zwar so, dass es die kritische Öffentlichkeit kaum erfährt. Zwangsmassnahmengerichte entscheiden geheim und gemäss «SRF Data» in 97 Prozent der Fälle so, wie es die Staatsanwaltschaft verlangt. Die «Republik» bezeichnete solche Gerichte jüngst als «Dunkelkammer der Justiz».
Die Ziele von Bundesrat und Parlament mögen zwar gut gemeint sein. Die Geheimnistuerei bei Ermittlungen gegen Terroristinnen und Terroristen erscheint verständlich. Das neue Anti-Terror-Gesetz wurde aber während seiner Entstehung von Menschenrechts-Organisationen und gar Uno-Expertinnen und -Experten kritisiert.
Sie warnen davor, dass die unklare Umschreibung einer «terroristischen Aktivität» nicht mit der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte zusammenpasse. Die Menschenrechtsbeauftragte des Europarates schreibt, dass dadurch die Tür für «übermässige und willkürliche Eingriffe in die Menschenrechte» geöffnet werde.
Die Stimmen der Kritikerinnen und Kritiker schaffen weitere Parallelen zum Film Minority Report: Das Precrime-Projekt scheitert, nachdem bekannt wird, dass die Visionen der Hellseher auch Morde zeigten, die gar nicht passieren sollten. Zahlreiche Tatverdächtige wurden unschuldig verwahrt, obwohl sich die Visionen der Hellseher widersprachen.
Dieser Frontalangriff auf den Rechtsstaat drohe auch der Schweiz, sagt nun Tobias Vögeli, Co-Präsident der Jungen Grünliberalen Schweiz. Er hat zusammen mit den Jungparteien Juso, den Jungen Grünen sowie der Piratenparteien das Referendum gegen das Gesetz ergriffen. «Ich habe grosses Vertrauen in die Schweizer Behörden. Die schwammige Formulierung des Terroristen-Begriffs schafft aber ein grosses Risiko für Fehler und Willkür», sagt Vögeli.
So habe der Bündner Baukartell-Skandal gezeigt, dass auch hierzulande unliebsame Personen behördliche Willkür erleben. Im Sommer 2017 wurde der Baukartell-Whistleblower Adam Quadroni von vermummten Grenadieren in Gewahrsam genommen und in eine psychiatrische Klinik untergebracht.
«Ich teile die Kritik der Uno-Experten, dass solche willkürlichen Massnahmen mit dem neuen Anti-Terror-Gesetz auch gegen Oppositionelle missbraucht werden können», kritisiert Vögeli. Auch er unterstütze den Kampf gegen Terrorismus. Er begründet aber sein Engagement im Referendumskomittee damit, dass der «Rechtsstaat nicht angegriffen werden darf». Das Referendum richte sich deshalb ausdrücklich nicht gegen die Verschärfung des Strafgesetzbuches. «Uns geht es nur um die Massnahmen, mit denen das Bundesamt für Polizei zusätzliche Macht erhält, die es in einem Rechtsstaat nicht haben darf», sagt Vögel weiter.
Das #Referendum der linken Jungparteien gegen die polizeilich-präventiven Massnahmen gefährdet die Sicherheit in der Schweiz. Die Realität zeigt leider, dass es griffige Instrumente zur verbesserten #Terrorismusbekämpfung braucht. Mehr dazu: https://t.co/ClSMQoHxxT pic.twitter.com/H6BjLPPijA
— FDP Schweiz (@FDP_Liberalen) October 7, 2020
Sein Engagement wird auf bürgerlicher Seite kritisiert: Die FDP schreibt auf Twitter, dass das Referendum «die Sicherheit der Schweiz» gefährde und es «griffige Instrumenten zur verbesserten Terrorbekämpfung» brauche. Diese Position wird laut JGLP-Chef Vögeli nicht von allen Freisinnigen unterstützt: «Wir wissen, dass insbesondere bei den Jungfreisinnigen einzelne Exponenten dagegen sind.»
Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen, bestätigt das: «Ja, einige unserer Mitglieder haben sich schon kritisch zum Anti-Terror-Gesetz geäussert. Unsere Partei war schon immer gegen den Ausbau von staatlicher Überwachung.» Ein offizieller Entscheid, ob man das Referendum unterstützen werde, steht jedoch noch aus. «Sowas entscheidet bei uns die Delegiertenversammlung. Es wird wohl auf eine Güterabwägung auslaufen. Wir werden uns die Pro- und Contra-Argumente sehr gut anschauen müssen», sagt Müller weiter.
Es braucht Kontrollen, aber zu welchem Preis? Die Debatte muss geführt werden, sachlich und öffentlich.