Der schweizerische Staatstrojaner ist beschlossen: Ist das gut oder schlecht? Zwei watson-Redakteure sind sich nicht einig
Der Nationalrat will den Strafverfolgungsbehörden für die Überwachung neue Mittel zur Verfügung stellen. Er hat es am Mittwoch abgelehnt, eine Gesetzesrevision an den Bundesrat zurückzuweisen.
Mit 128 zu 50 Stimmen bei 7 Enthaltungen sprach sich der Nationalrat gegen die Rückweisung aus. Das Gesetz zurückweisen wollten die Grünen sowie Teile der SVP-Fraktion und der SP-Fraktion.
Es geht um das Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF). Die umstrittensten Punkte sind:
- Die Gesetzesrevision würde den Strafverfolgungsbehörden ermöglichen, sogenannte Staatstrojaner in Computer einzuschleusen, um Skype-Gespräche mitzuhören. Bis jetzt können Kriminelle einer Überwachung mit verschlüsselten Gesprächen ausweichen.
- Zudem soll die Vorratsdatenspeicherung ausgeweitet werden. Provider müssen die Randdaten ihrer Kunden – also die Aufzeichnungen, wer wann mit wem wie lange telefoniert hat und wo er sich aufgehalten hat – sechs Monate lang aufbewahren.
Künftig sollen die Strafverfolgungsbehörden auch nach zwölf Monaten noch darauf zugreifen können. - Mit der BÜPF-Revision soll auch der polizeiliche Einsatz von Handystörsendern (IMSI-Catcher) erlaubt werden. Diese Geräte geben sich als Mobilfunkantenne aus und schieben sich im Handynetz zwischen die Mobiltelefone und das eigentliche Mobilfunknetz.
Bereits am vergangenen Mittwoch stimmte der Ständerat dem neuen Nachrichtendienstgesetz (NDB) zu. Dort wird vor allem die Kabelaufklärung kritisiert, die es dem Schweizer Geheimdienst erlaubt, grenzüberschreitende Signale aus Internetkabeln zu erfassen. Damit könnte ins Visier des Nachrichtendienstes geraten, wer bestimmte Begriffe googelt oder in E-Mails erwähnt.
Die beiden neuen Gesetze bedeuten mehr Überwachung in der Schweiz. Ist das gut oder schlecht? Zwei watson-Redakteure haben unterschiedliche Ansichten:
Die Digitalbranche ist empört. Das Gesetz mit der lustigen Abkürzung BÜPF wird den Strafverfolgern künftig weitere Ermittlungsmöglichkeiten eröffnen. Diese betreffen logischerweise die Kunden der Provider und deren Privatsphäre. Und zwar nicht nur die Privatsphäre der überwachten Personen, sondern auch diejenige Unbescholtener, die mit mutmasslichen Kriminellen in Kontakt stehen.
Deshalb ist die entscheidende Frage nicht «Überwachung oder nicht Überwachung», sondern die Güterabwägung zwischen dem Schutz der Privatsphäre unschuldiger Dritter und einer erfolgreichen Strafverfolgung von Kriminellen.
Unter diesen Gesichtspunkten ist das BÜPF ein gutes Gesetz. Die Vorteile überwiegen:
1. Die Untersuchungsbehörden dürfen IMSI-Catcher einsetzen, die sämtliche Handys in einem gewissen Radius identifizieren können. Der Einsatz solcher Geräte bietet tatsächlich Missbrauchspotential, etwa wenn bei einer unbewilligten Kundgebung einfach alle Teilnehmer über ihre Handys identifiziert und deren Daten gespeichert werden. Doch dafür darf der IMSI-Catcher nicht eingesetzt werden. Eine gesuchte, eventuell gefährliche Person zu lokalisieren, ist jedoch ein sinnvoller Einsatz eines solchen Geräts.
2. Die Staatsanwaltschaften können Trojaner auf Computern oder Handys von Verdächtigen installieren lassen, um verschlüsselte Kommunikation abzufangen. Im Vergleich mit der Verwanzung von Wohnungen oder Autos von Verdächtigen geht der Einsatz solcher Trojaner sicher nicht zu weit. Durchsuchungen der Computer oder das Abhören beziehungsweise Abfilmen von Verdächtigen über den Computer ist nicht erlaubt. Der Deliktskatalog, bei dem Trojaner eingesetzt werden dürfen, ist sehr eng gefasst und auf schwere Kriminalität beschränkt. In diesen Fällen wiegt die Überführung der Täter sicher schwerer als der Schutz der Privatsphäre von Dritten.
3. Die Provider müssen die Randdaten ihrer Kunden zwölf statt wie bisher nur sechs Monate aufbewahren. Diese Regelung ist sinnvoll. Bei Ermittlungen zu Drogen- oder Menschenhandel können die Untersuchungsbehörden so im Idealfall doppelt so viele Beweise zusammentragen wie bisher. Oft reichen sechs Monate Randdaten nicht, insbesondere wenn zwischen Straftaten und Einsetzen der Ermittlungen dieser Zeitraum bereits verstrichen ist.
Kommt hinzu: Sämtliche Überwachungsmassnahmen müssen von einem Zwangsmassnahmengericht auf Verhältnis- und Rechtmässigkeit überprüft und bewilligt werden. Allfällig missbräuchlich erhobene Daten würden die Chancen auf eine Verurteilung der Verdächtigen vor Gericht stark senken, weshalb die Gefahr eines Missbrauchs durch Strafverfolger gering ist.
Anders sieht dies beim neuen Nachrichtendienstgesetz aus. Hier ist der Nachrichtendienst mit Zustimmung dreier Bundesräte und des Bundesverwaltungsgerichts befugt, weitreichende Überwachungsmassnahmen einzuleiten, gegen die keine Rechtsmittel bestehen und die keiner weiteren Transparenzpflicht unterstehen. Das einzige Argument, das sich allenfalls für das neue NDG noch ins Feld führen liesse: Das Gesetz gäbe dem Bundesrat die Möglichkeit, den NDB mit dem Schutz internationaler Unternehmen und Diplomaten vor Lauschangriffen anderer Staaten zu beauftragen.
Aber Beteuerungen seitens des Vorstehers VBS und des Nachrichtendienstes, die neuen Möglichkeiten würden zurückhaltend eingesetzt, sind mit allergrösster Vorsicht zu geniessen: Der potentielle Nutzen der neuen Möglichkeiten des Geheimdienstes steht in keinem Verhältnis zur möglichen massenhaften Verletzung der Grundrechte.
Vor zwei Jahren liess Edward Snowden die Bombe platzen: Er entlarvte die USA als unersättlichen Überwachungsstaat. Damals sagte der Whistleblower: «Meine grösste Angst ist, dass sich nichts verändern wird.»
Seine Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Vor zwei Wochen hat der US-Senat eine Geheimdienstreform angenommen, welche die Macht des Geheimdienstes NSA bei der globalen Überwachung einschränkt.
Und was macht die Schweiz? Sie baut die Schnüffelkompetenzen ihres Geheimdienstes massiv aus.
Man passe die Gesetzlage nur der technischen Realität an, argumentiert Verteidigungsminister Ueli Maurer. Unter diesem Deckmantel nehmen die Volksvertreter jedoch einen harschen Eingriff in die Grundrechte der Schweizer in Kauf.
Im Blick auf den «Wandel im globalen Bewusstsein» gegen die Massenüberwachung, wie es Snowden ausdrückt, ist das ein Schritt in die falsche Richtung. In einer Zeit, in der jeder Teil unseres Lebens von der digitalen Welt durchdrungen wird, brauchen wir die Privatsphäre mehr denn je. Wir wollen keine gläsernen Bürger sein.
Vergessen wir nicht den Fichenskandal. Die Zeit, als Beamte während des Kalten Krieges über 900'000 Personen und Organisationen bespitzelten – aus Angst vor allem, was «unschweizerisch» sein könnte. Die Dimensionen der geplanten Gesetze übersteigen die der Fichenaffäre.
Dazu kommt: Diese Mittel sind bei der Terrorabwehr höchst ineffizient: Bis heute wurde kein Anschlag durch die verdachtlose Massenüberwachung verhindert. Gemäss einer Studie der New America Foundation, die 225 Fälle von Terrorplänen unter die Lupe genommen hat, wird nur in 7,5 Prozent der Fälle eine Ermittlung mit Hilfe von NSA-Massnahmen initiiert.
Das Max-Planck-Institut kommt in einem 300-seitigen Gutachten zum Schluss: «Es lassen sich keine Hinweise darauf ableiten, dass die in der Schweiz seit etwa zehn Jahren praktizierte Vorratsdatenspeicherung zu einer systematisch höheren Aufklärung geführt hätte.»
Mit der gezielten Beobachtung Verdächtiger haben die Geheimdienste bereits jetzt alle gesetzlichen Möglichkeiten, die sie brauchen.
Doch es geht gar nicht um den Kampf gegen den Terror. Es geht um Macht und wirtschaftliche, diplomatische und industrielle Spionage. Wir haben es nicht nötig, bei diesem digitalen Kalten Krieg mitzumachen.
Die neuen Gesetze sind nicht nur auf grundrechtlicher Ebene problematisch, sondern bringen auch wirtschaftliche Schäden mit sich. Die Schweiz hatte bei Diplomaten und internationalen Unternehmen bis jetzt einen vorbildlichen Ruf. Man wusste: Hier wird die Privatsphäre noch respektiert.
Dieser Standortvorteil ist nun dahin. Kein Wunder, gehen auch Start-ups, die sich im internationalen Markt auf Cybersicherheit spezialisiert haben, auf die Barrikaden. Sie reihen sich ein in eine breite Widerstandsallianz aus Politikern von links bis rechts, Netzaktivisten und Menschenrechts-Organisationen.
Und diese machen kein Geheimnis daraus, dass sie schon ein Referendum gegen die neuen Gesetze planen. So wird das Volk wohl das letzte Wort haben.
Und hoffentlich beweisen, dass wir ein Teil globalen Wandels sind, der der unnötigen Überwachung unbescholtener Bürger Einhalt gebietet, statt sie voranzutreiben.