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Abstimmungs-«Arena» eskaliert bei Diskussion über «Gesundheitsapartheid»

Hatten einiges zu bereden: Philipp Gut und Daniel Jositsch.
Hatten einiges zu bereden: Philipp Gut und Daniel Jositsch.Bild: Keystone/srf
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SVP-Mitglied vergleicht Zertifikatspflicht mit Apartheid – SP-Jositsch: «Eine Frechheit»

Emotional war sie, die Debatte in der «Arena» über die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit». Besonders als Journalist und SVP-Mitglied Philipp Gut behauptete, dass es während der Pandemie eine Gesundheits-Apartheid gegeben habe, drohte die Stimmung zu kippen.
11.05.2024, 05:0010.05.2024, 16:40
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Die Coronapandemie ist überstanden. Doch weiterhin geistern Relikte aus dieser Zeit in der Schweizer Politik herum. So auch die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit».

Diese wurde im Dezember 2021 von einem Komitee rund um die Freiheitliche Bewegung Schweiz eingereicht. Grund: Der Bundesrat hatte während der Pandemie teilweise drastische Massnahmen ergriffen, um die Bevölkerung vor Neuinfektionen zu schützen. So etwa auch die Zertifikatspflicht – die von den Initianten als massiver Eingriff in die Privatsphäre und Freiheit der Bürgerinnen und Bürger erachtet wird.

Nun, rund zweieinhalb Jahre nach Einreichen dieser Initiative – und weit entfernt von Zertifikatspflicht, PCR-Tests, Quarantäne und Maskenobligatorium –, kommt sie vors Volk. Am 9. Juni stimmen die Schweizerinnen und Schweizer darüber ab.

Befürworter der Initiative in der «Arena» waren:

  • Richard Koller, Präsident Freiheitliche Bewegung Schweiz und Initiant
  • Philipp Gut, Journalist und SVP-Mitglied
  • Pirmin Schwander, Ständerat SVP/SZ

Die Gegner der Initiative waren:

  • Beat Flach, Nationalrat GLP/AG und Co-Präsident Nein-Komitee
  • Daniel Jositsch, Ständerat SP/ZH
  • Maya Bally, Nationalrätin Die Mitte/AG

Schon zu Beginn der Sendung war klar: Die Männer in der Runde sprechen gern und viel. Und: Jeder Einzelne war davon überzeugt, dass er die einzig richtige Meinung vertrat. Doch die Diskussion begann ruhig – erst gegen Ende häufte sich der Ausruf: «Jetzt lassen Sie mich doch aussprechen!»

Das fordert die Initiative
Im Herbst 2020 wurde die Initiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» lanciert. Sie fordert, dass für Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit die Zustimmung der betroffenen Person vorliegen muss. Gemäss Initiative darf zudem eine Person, die die Zustimmung verweigert, weder bestraft noch benachteiligt werden.

Der Initiativtext spricht nicht von «Impfungen», sondern allgemein von «Eingriffen». Der Text umfasst damit grundsätzlich jedes Handeln von Bund, Kantonen und Gemeinden, das auf den Körper einwirkt. Dazu gehören zum Beispiel die Polizeiarbeit, der Strafvollzug oder das Asylwesen.
Quelle: BAG

Wann darf die Freiheit eingeschränkt werden?

Im Zentrum stand zu Beginn der Sendung folgende Frage:

Wann ist es zulässig, dass die Freiheit des Einzelnen zum Schutz des Kollektivs eingeschränkt wird?

GLP-Nationalrat Beat Flach sagte dazu: «Die Freiheit des Einzelnen hat ihre Grenzen dort, wo sie die Freiheit der Gesellschaft, der anderen, tangiert.» Die Freiheit des Einzelnen sei nicht grenzenlos. Schlussendlich gehe es darum, dass andere, etwa vulnerable Personen, geschützt werden sollten – beispielsweise durch eine Impfung.

Beat Flach erklärt, wann die Freiheit eingeschränkt werden sollte:

Video: watson

«Die Freiheit hat dort ihre Grenzen, wo die Freiheit des Nächsten wieder genommen wird», sagte Richard Koller, Präsident Freiheitliche Bewegung Schweiz und Initiant, und stimmte Flach gewissermassen zu.

Doch das, was die Menschen in der Coronapandemie erlebt haben, hätte nichts damit zu tun, was Flach erklärt habe, führt Koller aus. Der Mensch habe nicht Rücksicht darauf genommen, andere Menschen nicht zu verletzen, vielmehr habe der Staat mit Massnahmen eingegriffen. Deswegen müsse sich der Mensch vor dem Staat schützen können, denn was passiere, wenn der Staat Fehler begehe? Schliesslich seien in den vergangenen vier Jahren viele Fehler passiert.

SP-Ständerat Daniel Jositsch schaltete sich ein und sagte, dass man bereits gegen solche Fehler vorgehen könne, und ohnehin sei nicht so viel falsch gelaufen – im Gegenteil, die Politik habe vieles richtig gemacht.

Deshalb ist Daniel Jositsch gegen die Initiative:

Video: watson

Verwirrung über Umsetzung

Die Umsetzung des neuen Gesetzesartikels würde problematisch werden, erklärte Strafrechtsprofessor Jositsch. Durch Artikel 36 in der Bundesverfassung seien die Einschränkungen der Grundrechte bereits geregelt. Entweder hätte also der neue Artikel aus der Initiative keine Wirkung, weil Artikel 36 greifen würde, oder er hätte Wirkung und würde Artikel 36 aushebeln. Dies hätte dann aber zur Folge, dass die Polizei beispielsweise keine Blutentnahmen mehr machen dürfte, wenn sie vermutet, dass jemand alkoholisiert Auto gefahren ist.

Das steht im Artikel 36 der Bundesverfassung
1. Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. 2. Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. 3. Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein. 4. Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.

Apartheidsvergleich stiess sauer auf

Im letzten Drittel der Sendung wurde die Diskussion im Studio 8 hitziger. Als Journalist und SVP-Mitglied Philipp Gut davon zu sprechen begann, dass während der Pandemie eine Gesundheits-Apartheid zwischen Geimpften und Ungeimpften geherrscht habe, platzte Jositsch der Kragen.

«Das dürfen wir nicht so stehen lassen!», intervenierte der SP-Ständerat. Ein Wortgemenge entstand, Jositsch erhob mahnend den Finger. Brotz verliess gar sein Pult, um die Männer besser im Blickfeld zu haben, und bat sie mehrmals, sich zu beruhigen. Wie ein Kindergartenlehrer, der zwei prügelnde Buben auseinanderhalten muss, sagte er, dass nun einer nach dem anderen seine Meinung äussern sollte und den anderen aussprechen lassen müsse.

Jositsch widerlegte die Behauptung von Gut und erklärte:

«Die Apartheid war ein rassistisches System, das Menschen ohne sachliche Begründung benachteiligt hatte. Die Massnahmen während der Pandemie basieren auf dem Grundsatz, dass alles Gleiche gleichzubehandeln ist, aber Ungleiches ungleich. Das ist ein Verfassungsgrundsatz. Und in der Pandemie war es so, dass die Personen, die nicht geimpft waren, sich dafür entschieden haben, sich nicht impfen zu lassen. Entsprechend ist es auch möglich, ihn anders zu benachteiligen im Verhältnismässigkeitsprinzip.»

Er fügte an: «Entschuldigung, ins Fitnessstudio und ins Restaurant zu gehen, ist jetzt weiss Gott kein Menschenrecht! In der Apartheid waren sämtliche Menschenrechte im schwersten Masse tangiert. Das miteinander zu vergleichen, Herr Gut, das ist zynisch und es ist eine Frechheit!»

Daniel Jositsch: «Herr Gut, das ist zynisch und es ist eine Frechheit!»

Video: watson

Gut unterbrach Jositsch mehrfach, hatte aber keinen Stich gegen die ausführliche Argumentation. Das Gerangel sollte noch einige Zeit so weitergehen. Moderator Sandro Brotz war zu bemitleiden, waren einige der «Arena»-Teilnehmer in ihren beinahe kindlichen Wutausbrüchen doch kaum zu bändigen.

Von Beleidigungen und körperlichen Angriffen

Auch am Schluss der Sendung zeigte sich nochmals: Die «Arena» riss bei den Gästen alte Wunden auf. Mitte-Nationalrätin Maya Bally erklärte, dass sie auf den sozialen Medien beleidigt worden sei, als sie während der Pandemie ihre Meinung geäussert hatte. Ihr Kontrahent Koller sagte: «Ich wurde sogar angespuckt und getreten!»

Brotz fand passende Worte: «Wir haben in dieser Sendung über eine Zeit gesprochen, die wir, glaube ich, alle nicht mehr erleben möchten. Dass Sie, Frau Bally, beleidigt wurden und Sie, Herr Koller, getreten wurden, das gehört sich schlichtweg nicht in einer direkten Demokratie. So sind wir uns am Schluss doch noch halbwegs einig.»

Und er fügte an: «Ohne dass das so klingt wie das Wort zum Sonntag.» Immerhin konnte er dem Publikum so doch noch ein Schmunzeln entlocken.

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258 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Macca_the_Alpacca
11.05.2024 06:39registriert Oktober 2021
Ich lehne jede Initiative aus diesem Lager automatisch ab. Am 9. Juni ein weiteres mal. Wie oft noch? Diese Typen verschwenden unsere Zeit und unser Geld.
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Golden Girl
11.05.2024 06:55registriert Oktober 2021
Ich erlaube mir den Hinweis, dass die Schweiz in Bezug auf die Bevölkerung einer der höchsten Todesrate wegen Covid hatte. Jeder, der einen Angehörigen aus diesem Grund verloren hat, zweifelt wohl kaum etwas an den Massnahmen an, die getroffen wurden. Ich finde solche Diskussionen ein Hohn gegenüber diesen Angehörigen und auch gegenüber der Long Covid Patienten, die immer noch an den Folgen von Covid leiden.
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Black Cat in a Sink
11.05.2024 07:47registriert April 2015
Diese Initiative wird an der Urne in Bausch und Bogen versenkt. Alleine schon der Ausdruck „Gesundheits-Apartheid“ zeigt welche Haltung die Schwurbler um Gut vertreten. Chaos, Gewalt und Anarchie haben keinen Platz in der Schweiz.
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