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Schule - Bildung

Eltern zahlen 6000 Franken für Gymikurse – mit Folgen für arme Familien

Boomt vor allem in wohlhabenden Gemeinden: Lehrer besuchen Primarschüler zu Hause und bereiten sie auf die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium vor.
Boomt vor allem in wohlhabenden Gemeinden: Lehrer besuchen Primarschüler zu Hause und bereiten sie auf die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium vor.Bild: Shutterstock

Vorbereitungskurse fürs Gymi boomen: «Haben schon Anmeldungen für 2026»

Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder auf private Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium. Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm sieht das kritisch. Der Kanton Zürich sieht jedoch keine Änderung vor.
10.03.2023, 06:0110.03.2023, 14:32
Corsin Manser
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Gut 8000 Schülerinnen und Schüler haben am Montag die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium im Kanton Zürich absolviert. Nur etwa die Hälfte von ihnen wird bestehen.

Weil das Gerangel um die Plätze am Gymnasium so gross ist, schicken viele Eltern ihre Sprösslinge in private Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfung. Die Nachfrage hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, wie Anbieter im Gespräch mit watson sagen.

Anmeldungen fürs Jahr 2026

«Wir haben bereits zahlreiche Anmeldungen für die Kurse, welche die Kinder auf die Gymiprüfung 2024 vorbereiten. Auch für 2025 und 2026 kommen schon Anmeldungen rein», sagt Elisha Jay Fringer, Inhaber bei Perspectiva Nova.

Bei Perspectiva Nova besuchen ausgebildete Lehrpersonen die Kinder zu Hause. Der Vorbereitungskurs aufs Gymnasium dauert 22 Wochen à 2 Stunden. Kostenpunkt: 6160 Franken. Das Angebot sei vor allem in den wohlhabenderen Gemeinden beliebt, erzählt Fringer. Im Vergleich zum Vorjahr habe sich die Zahl der Kursteilnehmerinnen fast verdoppelt.

«Ohne einen guten Vorbereitungskurs ist die Aufnahmeprüfung eigentlich nicht zu schaffen.»
Elisha Jay Fringer, Perspectiva Nova

Nicht nur bei Perspectiva Nova boomt das Geschäft mit den Vorbereitungskursen. «Auch bei anderen Nachhilfeschulen besteht eine immer grössere Nachfrage», sagt Fringer. Es gebe zwar auch unentgeltliche Kurse an den öffentlichen Schulen, diese seien aber bei vielen Eltern verpönt, weil die Qualität des Unterrichts vom Einsatz der Lehrperson abhängig ist.

«Ohne einen guten Vorbereitungskurs ist die Aufnahmeprüfung eigentlich nicht zu schaffen», ist sich Fringer sicher. Das sei nicht unproblematisch, da Kinder aus gut situierten Familien einen deutlichen Vorteil gegenüber ärmeren Familien hätten. «Wir richten deshalb für jedes neue Schuljahr einen Förderfonds für Schülerinnen und Schüler ein, die sich das nicht leisten können.»

Elisha Jay Fringer.
Elisha Jay Fringer.bild: zvg

Von einem Boom rund um die Vorbereitungskurse spricht auch das Unternehmen Lernklar, das 19-wöchige Kurse anbietet. Im Gegensatz zu Perspectiva Nova handelt es sich um Gruppenkurse, die in Kursräumlichkeiten abgehalten werden. Die Kosten belaufen sich auf 2500 Franken. «Wir sind vergleichsweise günstig», sagt Lernklar zu watson. «Aber 2500 Franken ist viel Geld, das kann sich nicht jede Familie leisten.» Chancengleichheit sei so nicht gegeben. «Das ist ein Problem, das man anpacken muss.»

Kritik von der Erziehungswissenschafterin

Professorin Margrit Stamm beschäftigt sich in ihrer Forschung mit dem Thema Chancengleichheit. «Die Aufnahmeprüfung ist für gewisse Familien fast ein Leben oder Sterben», sagt die Erziehungswissenschafterin im Gespräch mit watson. «Das Gymnasium ist in den vergangenen Jahren zu einem Hype geworden. Immer mehr Kinder wollen oder müssen die Aufnahmeprüfung machen, weil die Eltern das wünschen.»

Stamm geht davon aus, dass der Trend weiter zunehmen wird. «Expats kennen die Berufsbildung nicht, zudem wird es in Zukunft viele Berufe nicht mehr geben, weshalb für viele Eltern der höchste Abschluss der beste ist.» Eine Berufsbildung sei oft nur zweite Garnitur, erklärt Stamm. «Deshalb setzen die Eltern Geld für die Vorbereitungskurse ein. Da entsteht ein System neben dem System. Das finde ich sehr problematisch.»

Man müsse sich auch fragen, was das für die Psyche der Kinder bedeute. «Sie müssen neben der Schule sehr viel arbeiten und manche werden zu Überleistern. Sie werden getrimmt, damit sie die kniffligen Fragen an der Aufnahmeprüfung lösen können.»

«Das ist eine Achillesferse des Bildungssystems.»
Margrit Stamm, Prof. em. Erziehungswissenschaft Uni Fribourg

Für Kinder aus einfachen Verhältnissen sei es in der Schweiz viel schwieriger, an ein Gymnasium zu kommen, sagt Stamm. Das würden diverse Studien belegen. Das fange schon bei den ebenfalls relevanten Vornoten an. «Lehrpersonen bewerten Kinder aus ärmeren Familien schlechter als Kinder aus Akademikerfamilien, da sie dort eher einen Rekurs befürchten», sagt Stamm.

Margrit Stamm.
Margrit Stamm.bild: iris krebs

Dies führe dazu, dass es am Gymnasium viele eher praktisch begabte Schüler habe, die eigentlich besser in einer Berufslehre aufgehoben wären. Gleichzeitig würden viele Jugendliche aus ärmeren Verhältnissen eine Berufslehre absolvieren, obschon sie eigentlich das Rüstzeug fürs Gymnasium hätten, erklärt Stamm. «Das ist eine Achillesferse des Bildungssystems.»

Man müsste die Übertrittskultur in der Schweiz verbessern, fordert Stamm. «Es wäre gerechter, wenn die Kinder ausschliesslich in der öffentlichen Schule auf die Prüfung vorbereitet würden und es keine privaten Kurse geben würde.»

17 Kantone haben keine Prüfung

Eine Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium gibt es nicht überall in der Schweiz. 17 Kantone kennen ein anderes System. Hier entscheiden die Erfahrungsnoten, Empfehlungen von Lehrpersonen oder eine Kombination dieser Elemente.

Auch diesem System steht Stamm skeptisch gegenüber. «Aus der Forschung wissen wir, dass Eltern bei Elterngesprächen einen grossen Einfluss auf die Lehrpersonen nehmen. Gerade Akademikereltern können die Lehrpersonen so beeinflussen, dass diese eine Empfehlung für das Gymnasium ausstellen.»

Dennoch findet Stamm die Variante ohne Prüfung besser. «Für die Psyche ist das sicher ein Vorteil, da sich nicht alles auf den Tag x konzentriert.» Grundsätzlich gebe es in der Schweiz aber noch kein optimales Auswahlverfahren fürs Gymnasium.

Kanton Zürich verteidigt die Aufnahmeprüfung

Beim Kanton Zürich steht man hinter den Aufnahmeprüfungen. «Alternativen werden derzeit nicht diskutiert», sagt Dennis Malischke, Kommunikationsbeauftragter des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes.

«Es ist nicht so, dass nur Kinder aus gut situierten Familien eine Kantonsschule besuchen.»
Dennis Malischke, Kanton Zürich

«Es ist nicht so, dass nur Kinder aus gut situierten Familien eine Kantonsschule besuchen», sagt Malischke. Die Aufnahmeprüfungen stünden allen Schülerinnen und Schülern offen. Zwar sei der Einfluss von sozioökonomischen Faktoren auf die Bildungslaufbahn von Schülerinnen und Schülern feststellbar. Diese seien jedoch nicht erst beim Übergang ans Gymnasium von Bedeutung. «Im Kanton Zürich gibt es deshalb auf allen Bildungsstufen Programme, um die Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche zu stärken.»

Malischke sagt sogar, dass im Zürcher Modell mehr Chancengleichheit gewährleistet sei als in anderen Kantonen. «Ein chancengerechtes Aufnahmeverfahren zeichnet sich durch seine Validität aus. Das heisst: Ziel ist und bleibt, dass diejenigen die Aufnahmeprüfung bestehen, die das Potenzial haben, das Gymnasium erfolgreich zu absolvieren.» Der Bildungsbericht 2018 habe gezeigt, dass die Validität in Zürich vergleichsweise hoch sei. «Dies spricht ebenfalls für das Zürcher Modell», so Malischke.

Darum hat sich die Maturitätsquote in der Schweiz verdoppelt

Video: srf/Roberto Krone
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228 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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M.Ensch
10.03.2023 06:47registriert März 2020
Der höchste Abschluss ist der beste. Nur: Was hat man nach dem Gymi genau? Nichts. Ausser einem Papier, das für ein Studium berechtigt. Wer eine Lehre macht und sich danach weiterbildet, wenn er will, hat schon mal einen Beruf, Arbeitserfahrung und ein Einkommen parallel zur Weiterbildung. Mit unserem obligatorischen Schulsystem läuft etwas komplett falsch, wenn alle nur noch ins Gymi wollen und so viel Geld in Vorbereitung gesteckt werden muss.
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Jonas der doofe
10.03.2023 06:32registriert Juni 2020
Ohne einen guten Vorbereitungskurs ist die Aufnahmeprüfung eigentlich nicht zu schaffen.

Aha, so ein Schwachsinn

Ja, moll, dann ist Janine-Fiona eventuell nicht fürs Gymi geeignet!?

Aber das wissen ihre Eltern bestimmt besser denn sie ist ja erst 10 Jahre alt und der Kurs startet in 3 Jahren.....
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Lisi_3
10.03.2023 06:52registriert Januar 2023
arme Kinder
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