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Die Schweiz steckt europapolitisch in der Sackgasse. Die Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen sind durch den Streit um «fremde Richter» blockiert, und auch bei der Personenfreizügigkeit ist mehr als zwei Jahre nach dem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) keine Lösung in Sicht. Fest steht einzig, dass die dreijährige Umsetzungsfrist, die im neuen Zuwanderungsartikel in der Verfassung enthalten ist, nicht eingehalten werden kann.
Bis zur Brexit-Abstimmung am 23. Juni wird sich nichts bewegen, und es bleibt fraglich, ob die Europäische Union danach der Schweiz entgegenkommen wird. Ein Bürgerkomitee hat deshalb Anfang 2015 die Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse» (RASA) lanciert und sie nach nur acht Monaten mit 130'000 Unterschriften eingereicht. Sie verlangt die Streichung des Verfassungsartikels 121a, der am 9. Februar 2014 angenommen wurde.
Trotz dieses beachtlichen Erfolgs ist mit RASA niemand wirklich glücklich. Die Initiative könnte das Gegenteil ihres Namens bewirken und die Schweiz bei einem Nein in der Sackgasse festnageln. Der Think-Tank Forum Aussenpolitik («Foraus») hat deshalb am Montag einen Gegenvorschlag zur RASA-Initiative vorgestellt. Ein «Konkordanzartikel» in der Verfassung soll das Ziel der MEI – die eigenständige Steuerung der Zuwanderung – mit der Personenfreizügigkeit verbinden.
Je nach Standpunkt handelt es sich um die Quadratur des Kreises oder um ein «Buebetrickli». Immerhin waren an der «Foraus»-Medienkonferenz Mitglieder aller Bundeshausfraktionen vertreten, ausser die SVP sowie die FDP, die kurzfristig absprang. Selbst die RASA-Initianten begrüssten den Vorschlag auf ihrer Website. Das positive Echo ist weniger durch Begeisterung motiviert als durch Ratlosigkeit. Diverse Szenarien sind möglich, und die Zeit drängt:
Der Nationalrat behandelt am Dienstag in seiner Sondersession die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf das jüngste EU-Mitglied Kroatien. Eine Annahme ist sicher, ausserhalb der SVP dürfte es nur wenige Nein-Stimmen geben. Dabei hatte der Bundesrat das Kroatien-Protokoll nach der MEI-Abstimmung auf Eis gelegt, bis eine Lösung bei der Personenfreizügigkeit vorliegt. Das ist noch immer nicht der Fall, dennoch hat Staatssekretär Mario Gattiker das Protokoll am 4. März unterzeichnet, in einem Hinterzimmer bei der EU-Kommission in Brüssel.
Grund ist auch hier der Zeitdruck: Ohne Ausdehnung auf Kroatien droht der Schweiz Ende 2016 der Rauswurf aus dem Forschungsabkommen Horizon 2020. Forscherinnen und Forscher warnen eindringlich vor diesem «Super-GAU». Gleichzeitig hofft der Bundesrat, die EU werde auf die Ratifizierung positiv reagieren und der Schweiz bei der Freizügigkeit entgegenkommen.
Die Konsultationen mit der EU enden mit einem Erfolg. Die Schweiz kann die Zuwanderung beschränken und die Personenfreizügigkeit beibehalten. Es ist das Wunschszenario der meisten Parteien und Verbände – und das am wenigsten realistische. Dies wurde an der «Foraus»-Medienkonferenz deutlich. Nachdem die EU ihrem wichtigen Mitglied Grossbritannien nur geringe Zugeständnisse bei den Sozialleistungen gemacht hat, wird sie dem «Bittsteller» Schweiz kaum eine Beschränkung der Zuwanderung gewähren.
Der Bundesrat hat am 4. März angekündigt, im Falle eines Scheiterns der Gespräche eine einseitige Schutzklausel zu erlassen. Bei den Parteien stösst sie auf wenig Gegenliebe. Die EU könnte eine einseitige Schutzklausel als Provokation empfinden. Gleichzeitig ist offen, ob sie überhaupt greifen würde: Das Bundesgericht entschied im letzten November, dass internationale Verträge wie jener zur Freizügigkeit über den nationalen Gesetzen stehen.
Als Alternative hat die Tessiner Kantonsregierung eine «Bottom-up-Schutzklausel» präsentiert. Das vom ehemaligen Spitzendiplomaten und heutigen ETH-Professor Michael Ambühl erarbeitete Modell orientiert sich nicht an der Zuwanderung, sondern am regionalen Arbeitsmarkt.
Wenn es bei den Löhnen oder der Arbeitslosigkeit zu «Ausreissern» kommt, soll die Schutzklausel aktiviert werden. Im konkreten Fall zielt sie vorab auf die Grenzgänger, deren Zahl im Tessin stark zugenommen hat. In anderen Regionen besteht zumindest Interesse. Die Konferenz der Kantonsregierungen (KDK) hat Ambühl den Auftrag erteilt, das Modell anzupassen.
Im Endeffekt läuft das Tessiner Modell auf einen Inländervorrang hinaus. Einen solchen hat auch der ehemalige FDP-Präsident Philipp Müller vorgeschlagen. Er soll selektiv und befristet angewendet werden, beschränkt auf Branchen und Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Allerdings verstösst ein Inländervorrang grundsätzlich gegen die Freizügigkeit.
Müller zeigte sich im Interview mit watson trotzdem zuversichtlich: Gespräche mit Botschaftern von EU-Staaten hätten ihm gezeigt, dass er «allenfalls ein Lösungsweg sein könnte». Im Parlament stösst der Aargauer Ständerat mit seiner Idee auf breite Unterstützung: Die Staatspolitische Kommission (SPK) des Nationalrats beschloss einstimmig, den Inländervorrang vertieft prüfen zu lassen.
Wenn diese Szenarien zu keiner Lösung führen, bleibt am Ende nur die RASA-Initiative. «Foraus»-Präsident Nicola Forster schilderte an der Medienkonferenz drei Gründe, warum ihre Erfolgschancen relativ klein seien: Sie setzt sich dem Vorwurf der Zwängerei aus. Sie bietet inhaltlich keine Alternativen für die Befürworter der Masseneinwanderungs-Initiative. Und sie müsste das Ständemehr nehmen, «eine sehr hohe Hürde», so Forster.
Mit ihrer «Alles oder nichts»-Stossrichtung dürfte es RASA in der Tat beim Stimmvolk schwer haben. Der Konkordanzartikel von «Foraus» soll eine mehrheitsfähige Alternative aufzeigen. Letztlich ist er vor allem ein Notnagel für den Fall, dass alle anderen Stricke reissen. Die Vertreter von SP, Grünen, CVP, GLP und BDP jedenfalls wollten sich trotz positiver Grundstimmung nicht direkt dazu bekennen oder ihn gar in die politische Arena hinein tragen.
Der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch brachte es auf den Punkt: «Er ist ein guter Ansatz, aber ich weiss nicht, ob er der Weisheit letzter Schluss ist.» Das letzte Wort im Zuwanderungs-Streit ist definitiv noch nicht gesprochen.