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Schweiz – EU: Warum der Schwanz nicht mit dem Hund wackelt

Harmonie nur an der Oberfläche: Bundespräsident Johann Schneider-Ammann und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei ihrem Treffen am 15. Januar in Brüssel.
Harmonie nur an der Oberfläche: Bundespräsident Johann Schneider-Ammann und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei ihrem Treffen am 15. Januar in Brüssel.
Bild: OLIVIER HOSLET/EPA/KEYSTONE

Die Schweizer EU-Illusion: Warum der Schwanz nicht mit dem Hund wackelt

Zwei Jahre nach dem Ja zur SVP-Zuwanderungsinitiative ist eine Lösung mit der EU nicht in Sicht. Die Schweiz muss auf die Briten warten und erhält eine Lektion, wer von wem abhängig ist.
06.02.2016, 10:4508.02.2016, 06:33
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Zu sechst waren sie in Davos aufmarschiert, die Mitglieder der Landesregierung. Nur Simonetta Sommaruga blieb zu Hause. Sie sprachen am World Economic Forum (WEF) mit Ministern und Mitgliedern der EU-Kommission. Erklärtes Ziel der Charme-Offensive: Die Europäische Union für einen Deal bei der Personenfreizügigkeit zu gewinnen. Der Bundesrat setzt auf eine Schutzklausel, um die Zuwanderung unter bestimmten Bedingungen einschränken zu können.

Am Ende standen die glorreichen Sechs mit leeren Händen da. Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, gab Bundespräsident Johann Schneider-Ammann bei einem gemeinsamen Nachtessen zu verstehen, dass die Schweiz keine Zugeständnisse erwarten kann, solange die EU ihr Verhältnis zum schwierigen Mitglied Grossbritannien nicht geklärt hat. Auch bei einem Treffen Schneider-Ammanns mit Frankreichs Präsident François Hollande gab es nur nette Worte.

Premierminister David Cameron verteidigt den Deal mit der EU.
Premierminister David Cameron verteidigt den Deal mit der EU.
Bild: POOL/REUTERS

Diese Woche nun hat die EU den Briten, die sich mit der Zuwanderung ebenfalls schwer tun, diverse Sonderregeln eingeräumt. Dazu gehört eine «Notbremse», die es London erlaubt, zugewanderte EU-Bürger von bestimmten Sozialleistungen für bis zu vier Jahre auszuschliessen. Die Volksabstimmung über einen «Brexit», den Austritt Grossbritanniens aus der EU, dürfte frühestens am 23. Juni stattfinden. Bevor nicht endgültig Klarheit herrscht, wird Brüssel der Schweiz keinen Millimeter entgegenkommen.

Für Bundesbern grenzt dies an ein Worst-Case-Szenario. Im März wollte der Bundesrat die Botschaft zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative präsentieren. Hält er sich an den Anfang Dezember präsentierten Fahrplan, dann hat er kaum eine andere Wahl, als «Plan B» zu aktivieren: Die einseitige Einführung der Schutzklausel ohne Einverständnis der EU. Es scheint fraglich, dass Brüssel eine solche «Provokation» widerspruchslos hinnehmen würde.

Die EU hat ihrem gewichtigen Mitglied Grossbritannien nur geringe Zugeständnisse in einem Teilbereich gemacht. Warum soll sie einem Drittland deutlich weiter entgegenkommen?

Vielleicht spielt der Bundesrat auf Zeit, vielleicht schiebt er die Schutzklausel auf die lange Bank. Dabei sind bereits zwei Jahre vergangen seit der Abstimmung über die Masseneinwanderungs-Initiative. Zwei Drittel der Frist zu ihrer Umsetzung sind ergebnislos abgelaufen. Man darf davon ausgehen, dass bis zum 9. Februar 2017 keine definitive Lösung vorliegen wird. Im besten Fall werden die Stimmbürger nächstes Jahr über die Personenfreizügigkeit abstimmen.

Die Situation ist verkachelt. Doch (zu) viele gehen unerschütterlich davon aus, dass es schon gut kommt. Notfalls müsse die Schweiz einseitig handeln. Die EU werde das hinnehmen. Symptomatisch dafür ist diese Aussage aus einem Interview mit Rolf Soiron, VR-Präsident des Chemiekonzerns Lonza, in der «Schweiz am Sonntag»:

Ich glaube an eine von der Schweiz einseitig verkündete Schutzklausel, die klar, aber massvoll ist, sodass Europa daraus kein Drama macht. Das ist machbar. Allerdings wird, so meine ich, Europa auf die institutionellen Entwicklungen mit uns verzichten müssen. Da macht die Rechte bei uns nie mit.

Was davon zu halten ist, erklärte Klaus Armingeon, Professor für Europarecht an der Universität Bern, gleichentags im Interview mit der «NZZ am Sonntag»:

Die EU wird den Teufel tun, durch Zugeständnisse an die Schweiz die internen Probleme noch zu verstärken. Von einem angeschlagenen Boxer kann die Schweiz keine Streicheleinheiten erwarten. Ginge es nur um die Schweiz, könnte man die Masseneinwanderungs-Initiative leicht umsetzen. Macht die EU substanzielle Konzessionen an das Land bei der Zuwanderung, kommen aber sofort Politiker in Polen, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und fordern Ähnliches – und die Personenfreizügigkeit, einer der Pfeiler der EU, wäre weg. Das wird man nicht zulassen.

Wer ist wohl näher an der Realität? Die Antwort ist überflüssig. Trotzdem hält sich hartnäckig die Überzeugung, die EU werde auf jeden Fall nachgeben und uns den Fünfer, das Weggli und den Schoggistengel noch dazu offerieren. Der frühere deutsche Aussenminister Joschka Fischer gab darauf im letzten November bei seinem Vortrag in Zürich eine klare Antwort: «Auch wenn manche in der Schweiz dies glauben: Der Schwanz wackelt nicht mit dem Hund.»

Anders gesagt: Die Schweiz ist nicht in der Position, der EU den Tarif durchzugeben. Der EU-Deal mit den Briten zeigt dies deutlich, er beschränkt sich auf die Sozialleistungen. Die «Einwanderung in die Sozialwerke» aber ist bei uns bestenfalls ein Nebenschauplatz. Die SVP-Initiative verlangt, dass die Zuwanderung an sich eingeschränkt wird. Sie geht also deutlich weiter. Dennoch meinten einige Kommentatoren und Analysten, die Schweiz habe nun «Spielraum» in den Gesprächen mit Brüssel.

Natürlich kann man auf einen Zerfall der EU spekulieren. Abgesehen davon, dass dies mehr Probleme verursachen als lösen dürfte, ist er wenig realistisch.

Warum eigentlich? Die EU hat ihrem gewichtigen Mitglied Grossbritannien nur geringe Zugeständnisse in einem Teilbereich gemacht. Warum soll sie einem Drittland deutlich weiter entgegenkommen? Noch dazu einem notorischen Querulanten wie der Schweiz, die permanent Extrawürste fordert, aber die Lasten einer EU-Mitgliedschaft nicht tragen will?

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Noch schwieriger wird es beim institutionellen Abkommen, auf das Europa laut Rolf Soiron wird verzichten müssen. Es sei daran erinnert, dass dieser Vertrag eine Forderung der EU ist, sie will damit dem Wildwuchs der bilateralen Verträge einen stabilen Rahmen verpassen. Die Verhandlungen laufen, ziehen sich aber dahin. Der umstrittenste Punkt ist die Frage, ob der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg im Streitfall das letzte Wort haben wird.

Die Schweiz will Entscheide des EuGH nur als eine Art Gutachten akzeptieren. Der Entscheid über eine Umsetzung müsse Sache der Politik bleiben. Der Präsident des höchsten EU-Gerichts aber hat letztes Jahr im SRF-Interview erklärt, eine solche Lösung sei «EU-verfassungsrechtlich nicht möglich». Ein Ausweg aus dieser Zwickmühle ist nicht erkennbar. Aussenminister Didier Burkhalter bekräftigte Anfang Dezember den Standpunkt der Schweiz: «Wir wollen keine fremden Richter.»

Eine konsequente Haltung. Oder nicht?

In anderen Bereich akzeptiert die Schweiz «fremde Richter» sehr wohl. Das betrifft nicht nur den umstrittenen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, bei dem es sich streng genommen gar nicht um fremde Richter handelt, weil die Schweiz Mitglied des Europarats ist. Sie anerkennt anders als die USA oder Israel auch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Und mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) hat sie sich deren Mechanismus zur Streitbeilegung durch den Dispute Settlement Body (DSB) unterworfen.

Der eleganteste Weg für die Schweiz wäre eine Paketlösung: Eine Abstimmung über das Rahmenabkommen, in die eine Lösung bei der Personenfreizügigkeit integriert wäre.

Die Schweiz hat sich bislang in vier Fällen direkt an den DSB gewandt. Selber wurde sie noch nie «verklagt». Falls der Ausschuss gegen sie entscheidet, müsste sie das Verdikt umsetzen, sonst können Vergeltungsmassnahmen ergriffen werden. Grössere Einwände gegen diesen Mechanismus sind nicht bekannt. Geht es aber um die EU, sind «fremde Richter» ein Problem.

Die Beispiele mögen nur bedingt vergleichbar sein. Trotzdem sind sie symptomatisch dafür, wie die Europäische Union in den letzten Jahrzehnten zu einem Popanz aufgebauscht wurde, und das nicht nur von der SVP. Eine rationale Debatte über unser Verhältnis zu Europa ist kaum noch möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass die EU der Schweiz bei den Bilateralen I sehr weit entgegen kam. Deshalb glauben viele, der Schwanz könne mit dem Hund wackeln.

Viktor Orbán provoziert Europa, denkt aber nicht an einen EU-Austritt.
Viktor Orbán provoziert Europa, denkt aber nicht an einen EU-Austritt.
Bild: FRANCOIS LENOIR/REUTERS

Natürlich kann man auf einen Zerfall der EU spekulieren. Abgesehen davon, dass dies mehr Probleme verursachen als lösen dürfte, ist er wenig realistisch. Klaus Armingeon geht davon aus, dass die EU sich «durchwursteln» wird. Sicher, die politische Union wankt heftig. Aber die wirtschaftlichen Interessen sind immer noch gross. Das betrifft vor allem den Binnenmarkt. Er ist der Hauptgrund, warum der britische Premierminister David Cameron den «Brexit» ablehnt.

Andere Mitgliedsländer profitieren von den Transferzahlungen der grossen und wohlhabenden Staaten. Die neue polnische Regierung, die in der Heimat heftig am liberalen Rechtsstaat rüttelt, gibt sich deswegen in Brüssel ziemlich handzahm. Auch Viktor Orbán denkt nicht an einen Austritt aus der EU, den sich seine Schweizer Bewunderer vermutlich herbeiwünschen. Eher verzichten die Ungarn auf ihr geliebtes Gulasch als auf das Manna aus Brüssel.

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Der eleganteste Weg für die Schweiz wäre eine Paketlösung, wie sie letztes Jahr hier skizziert wurde und wie sie auch Didier Burkhalter bevorzugen würde: Eine Abstimmung über das Rahmenabkommen, in die eine Lösung bei der Personenfreizügigkeit integriert wäre. Denn letztlich geht es in beiden Fällen um die Zukunft des bilateralen Wegs. Nun sieht es nach einer Bastelei aus. Zuwanderung und Rahmenvertrag sollen separat behandelt werden.

Vielleicht kann sich die Schweiz das Wohlwollen der EU mit zusätzlichen Kohäsionszahlungen erkaufen. Vielleicht akzeptiert Brüssel eine Schutzklausel bei der Zuwanderung. Vielleicht verzichtet die EU auf das Rahmenabkommen und gewährt uns trotzdem neue bilaterale Verträge, etwa das ausgehandelte Stromabkommen. Vielleicht wackelt der Schwanz mit dem Hund?

Man kann da nur die schwedische Sängerin Zarah Leander zitieren: «Ich weiss, es wird einmal ein Wunder geschehen.»

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47 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Primus
06.02.2016 11:37registriert September 2015
Die Schweiz hat ein Problem mit ihrer MEI, die EU hat Probleme mit sich selber, wenn höhere Interessen vorliegen gestalten sich Deutschland und Frankreich die EU Regeln neu, Grossbritannien laboriert mit dem Brexit, Stabilität sieht anders aus.

Ich kenne jetzt den Inhalt eines Rahmenabkommens nicht, wie dieses verbindlich zu interpretieren wäre und wie stabil dieses sich umsetzen lassen würde.

Ernst gemeinte Frage: Weshalb genau ist ein EWR Beitritt für immer und ewig vom Tisch?
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Oberon
06.02.2016 12:40registriert Januar 2014
Die Schweiz hat sich leider in diese Situation manövriert und wird sich wohl mittelfristig neu erfinden müssen. Falls dies verschlafen wird werden viele noch von ihrem hohen Ross absteigen müssen bis wieder Sachpolitik betrieben wird. Leider wird dies über den "kleinen" Bürger passieren und wir werden wohl noch einige Rückschläge hinnehmen müssen. Langsam ist es an der Zeit das sich das Volk entscheidet ob man weiter in die Isolation will oder doch den Standort Schweiz stärkt und fit für die zukünftigen Herausforderungen macht.
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kliby
06.02.2016 12:59registriert September 2015
wir schicken jetzt den toni oder die margulla nach brüssel. nur habe ich das gefühl, die wollen das problem gar nicht lösen, sondern nur lukrativ bewirtschaften.
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