
Sag das doch deinen Freunden!
Zu sechst waren sie
in Davos aufmarschiert, die Mitglieder der Landesregierung. Nur
Simonetta Sommaruga blieb zu Hause. Sie sprachen am World Economic
Forum (WEF) mit Ministern und Mitgliedern der EU-Kommission.
Erklärtes Ziel der Charme-Offensive: Die Europäische Union für
einen Deal bei der Personenfreizügigkeit zu gewinnen. Der Bundesrat
setzt auf eine Schutzklausel, um die Zuwanderung unter bestimmten
Bedingungen einschränken zu können.
Am Ende standen die
glorreichen Sechs mit leeren Händen da. Frans Timmermans,
Vizepräsident der EU-Kommission, gab Bundespräsident Johann
Schneider-Ammann bei einem gemeinsamen Nachtessen zu verstehen, dass
die Schweiz keine Zugeständnisse erwarten kann, solange die EU ihr
Verhältnis zum schwierigen Mitglied Grossbritannien nicht geklärt
hat. Auch bei einem Treffen Schneider-Ammanns mit Frankreichs
Präsident François Hollande gab es nur nette Worte.
Diese Woche nun hat
die EU den Briten, die sich mit der Zuwanderung ebenfalls schwer tun, diverse Sonderregeln eingeräumt. Dazu gehört eine
«Notbremse», die es London erlaubt, zugewanderte EU-Bürger von
bestimmten Sozialleistungen für bis zu vier Jahre auszuschliessen.
Die Volksabstimmung über einen «Brexit», den Austritt
Grossbritanniens aus der EU, dürfte frühestens am 23. Juni
stattfinden. Bevor nicht endgültig Klarheit herrscht, wird Brüssel
der Schweiz keinen Millimeter entgegenkommen.
Für Bundesbern
grenzt dies an ein Worst-Case-Szenario. Im März wollte der Bundesrat die Botschaft zur Umsetzung der
Masseneinwanderungs-Initiative präsentieren. Hält er sich an den
Anfang Dezember präsentierten Fahrplan, dann hat er kaum eine andere
Wahl, als «Plan B» zu aktivieren: Die einseitige Einführung der
Schutzklausel ohne Einverständnis der EU. Es scheint fraglich, dass
Brüssel eine solche «Provokation» widerspruchslos hinnehmen
würde.
Vielleicht spielt
der Bundesrat auf Zeit, vielleicht schiebt er die Schutzklausel auf
die lange Bank. Dabei sind bereits zwei Jahre vergangen seit der Abstimmung
über die Masseneinwanderungs-Initiative. Zwei Drittel der Frist zu
ihrer Umsetzung sind ergebnislos abgelaufen. Man darf davon
ausgehen, dass bis zum 9. Februar 2017 keine definitive Lösung
vorliegen wird. Im besten Fall werden die Stimmbürger nächstes Jahr
über die Personenfreizügigkeit abstimmen.
Die Situation ist
verkachelt. Doch (zu) viele gehen unerschütterlich davon aus, dass
es schon gut kommt. Notfalls müsse die Schweiz einseitig
handeln. Die EU werde das hinnehmen. Symptomatisch dafür ist diese
Aussage aus einem Interview mit Rolf Soiron, VR-Präsident des
Chemiekonzerns Lonza, in der «Schweiz am
Sonntag»:
Was davon zu halten
ist, erklärte Klaus Armingeon, Professor für Europarecht an der
Universität Bern, gleichentags im Interview mit der «NZZ am
Sonntag»:
Wer
ist wohl näher an der Realität? Die Antwort ist überflüssig. Trotzdem hält sich hartnäckig die Überzeugung, die
EU werde auf jeden Fall nachgeben und uns den Fünfer, das Weggli und
den Schoggistengel noch dazu offerieren. Der frühere deutsche
Aussenminister Joschka Fischer gab darauf im letzten November bei
seinem Vortrag in Zürich eine klare Antwort: «Auch wenn manche in der
Schweiz dies glauben: Der Schwanz wackelt nicht mit dem Hund.»
Anders gesagt: Die
Schweiz ist nicht in der Position, der EU den Tarif durchzugeben. Der
EU-Deal mit den Briten zeigt dies deutlich, er beschränkt sich auf
die Sozialleistungen. Die «Einwanderung in die Sozialwerke» aber
ist bei uns bestenfalls ein Nebenschauplatz. Die SVP-Initiative
verlangt, dass die Zuwanderung an sich eingeschränkt wird. Sie geht
also deutlich weiter. Dennoch meinten einige Kommentatoren und Analysten, die
Schweiz habe nun «Spielraum» in den Gesprächen mit Brüssel.
Warum eigentlich?
Die EU hat ihrem gewichtigen Mitglied Grossbritannien nur geringe
Zugeständnisse in einem Teilbereich gemacht. Warum soll sie einem
Drittland deutlich weiter entgegenkommen? Noch dazu einem notorischen
Querulanten wie der Schweiz, die permanent Extrawürste fordert, aber
die Lasten einer EU-Mitgliedschaft nicht tragen will?
Noch schwieriger
wird es beim institutionellen Abkommen, auf das Europa laut Rolf
Soiron wird verzichten müssen. Es sei daran erinnert, dass dieser
Vertrag eine Forderung der EU ist, sie will damit dem Wildwuchs der
bilateralen Verträge einen stabilen Rahmen verpassen. Die
Verhandlungen laufen, ziehen sich aber dahin. Der umstrittenste Punkt
ist die Frage, ob der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg im
Streitfall das letzte Wort haben wird.
Die Schweiz will
Entscheide des EuGH nur als eine Art Gutachten akzeptieren. Der
Entscheid über eine Umsetzung müsse Sache der Politik bleiben. Der
Präsident des höchsten EU-Gerichts aber hat letztes Jahr im
SRF-Interview erklärt, eine solche Lösung sei
«EU-verfassungsrechtlich nicht möglich». Ein Ausweg aus dieser
Zwickmühle ist nicht erkennbar. Aussenminister Didier Burkhalter
bekräftigte Anfang Dezember den Standpunkt der Schweiz: «Wir wollen
keine fremden Richter.»
Eine konsequente
Haltung. Oder nicht?
In anderen Bereich
akzeptiert die Schweiz «fremde Richter» sehr wohl. Das
betrifft nicht nur den umstrittenen Gerichtshof für Menschenrechte
in Strassburg, bei dem es sich streng genommen gar nicht um fremde
Richter handelt, weil die Schweiz Mitglied des Europarats ist. Sie
anerkennt anders als die USA oder Israel auch den Internationalen
Strafgerichtshof in Den Haag. Und mit dem Beitritt zur
Welthandelsorganisation (WTO) hat sie sich deren Mechanismus zur
Streitbeilegung durch den Dispute Settlement Body (DSB)
unterworfen.
Die Schweiz hat sich bislang in vier Fällen direkt an den DSB gewandt. Selber wurde sie
noch nie «verklagt». Falls der Ausschuss gegen sie entscheidet,
müsste sie das Verdikt umsetzen, sonst können
Vergeltungsmassnahmen ergriffen werden. Grössere Einwände gegen
diesen Mechanismus sind nicht bekannt. Geht es aber um die EU, sind «fremde Richter» ein Problem.
Die Beispiele mögen
nur bedingt vergleichbar sein. Trotzdem sind sie symptomatisch
dafür, wie die Europäische Union in den letzten Jahrzehnten zu
einem Popanz aufgebauscht wurde, und das nicht nur von der
SVP. Eine rationale Debatte über unser Verhältnis zu Europa ist
kaum noch möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass die EU der Schweiz
bei den Bilateralen I sehr weit entgegen kam. Deshalb glauben viele,
der Schwanz könne mit dem Hund wackeln.
Natürlich kann man
auf einen Zerfall der EU spekulieren. Abgesehen davon, dass dies mehr
Probleme verursachen als lösen dürfte, ist er wenig realistisch.
Klaus Armingeon geht davon aus, dass die EU sich «durchwursteln» wird. Sicher, die politische Union wankt heftig. Aber die
wirtschaftlichen Interessen sind immer noch gross. Das betrifft vor
allem den Binnenmarkt. Er ist der Hauptgrund, warum der britische
Premierminister David Cameron den «Brexit» ablehnt.
Andere
Mitgliedsländer profitieren von den Transferzahlungen der grossen
und wohlhabenden Staaten. Die neue polnische Regierung, die in der
Heimat heftig am liberalen Rechtsstaat rüttelt, gibt sich deswegen
in Brüssel ziemlich handzahm. Auch Viktor Orbán denkt nicht an einen Austritt aus der EU, den sich seine Schweizer Bewunderer
vermutlich herbeiwünschen. Eher verzichten die Ungarn auf ihr geliebtes Gulasch als auf das Manna aus Brüssel.
Der eleganteste Weg
für die Schweiz wäre eine Paketlösung, wie sie letztes Jahr hier
skizziert wurde und wie sie auch Didier Burkhalter bevorzugen würde:
Eine Abstimmung über das Rahmenabkommen, in die eine Lösung bei der
Personenfreizügigkeit integriert wäre. Denn letztlich geht es in beiden Fällen um die Zukunft des bilateralen Wegs. Nun sieht es nach einer Bastelei aus. Zuwanderung und Rahmenvertrag
sollen separat behandelt werden.
Vielleicht kann sich
die Schweiz das Wohlwollen der EU mit zusätzlichen
Kohäsionszahlungen erkaufen. Vielleicht akzeptiert Brüssel eine
Schutzklausel bei der Zuwanderung. Vielleicht verzichtet die EU auf
das Rahmenabkommen und gewährt uns trotzdem neue bilaterale
Verträge, etwa das ausgehandelte Stromabkommen. Vielleicht
wackelt der Schwanz mit dem Hund?
Man kann da nur die
schwedische Sängerin Zarah Leander zitieren: «Ich weiss, es wird
einmal ein Wunder geschehen.»